07.08.2020

Kühnert kann Bundestag – auch ohne Examen

Wer kann und darf für den Bundestag kandidieren? Unsere Verfassung ist da eindeutig: „Wählbar ist, wer am Wahltage Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist und das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.“ Ob jemand für ein Bundestagsmandat qualifiziert ist oder nicht, ob er einen Berufsabschluss hat oder nicht, ob er wenigstens Lesen und Schreiben können muss, darüber steht in der Verfassung und den entsprechenden Wahlgesetzen nichts. Über die Qualifikation von Bewerbern entscheiden allein die Parteien und die Wähler.

So besehen ist die öffentliche Debatte, ob der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert bei der Bundestagswahl 2021 kandidieren soll und darf, müßig. Zwei nicht abgeschlossene Studiengänge sagen absolut nichts darüber aus, ob der sozialdemokratische Sozialisierungs-Befürworter und GroKo-Gegner in der Lage wäre, ein Mandat auszuüben. Um jedes Missverständnis auszuschließen: Der 31-Jährige ist ein großes politisches Talent; Kühnert kann Bundestag. Dass er mit persönlicher Kritik nicht umgehen kann, steht auf einem anderen Blatt. Wer an einen potentiellen Volksvertreter den Maßstab „Hochschulexamen“ anlegt, tritt keineswegs den „Lebenslauf von Millionen Menschen mit Füßen“, wie Kühnert leicht weinerlich beklagt. Wer bei Bundestagsbewerbern nach der akademischen Ausbildung fragt, stellt an einen Volksvertreter nur höhere Ansprüche als an einen Taxi-Fahrer, eine Fachverkäuferin oder einen Elektroniker.

Berufserfahrung wichtiger als Titel

Bei der Diskussion um die akademische und berufliche Qualifikation von Bundestagsaspiranten geht es im Kern um etwas anderes, wichtigeres. Denn Kühnert nicht der erste in dieser Kategorie – und bei weitem nicht der einzige. Solche „Karrieren“ gibt es in allen Parteien, und das mit steigender Tendenz. Ein akademischer Abschluss spielt bei Parteien wie CDU/CSU und FDP zwar noch eine größere Rolle als bei SPD, Linken und Grünen. Weshalb bei den Bürgerlichen mehr „Fake-Doktores“, die bei der Abfassung ihrer Dissertation betrogen hatten, aufgeflogen sind, als in den Fraktionen links der Mitte. Aber auch in der Union ist ein abgebrochenes Studium längst kein unüberwindbares Hindernis mehr auf dem Weg in die Parlamente.

Ohnehin sollte man die Bedeutung akademischer Weihen nicht überbewerten. Ob jemand das Studium ordentlich zu Ende gebracht oder promoviert hat, ist kein Indiz für seine Intelligenz. Es sagt eher etwas aus über die Willens- und Charakterstärke eines jungen Mannes oder einer jungen Frau aus, wenn sie oder er parallel zu allen politischen Aktivitäten noch Seminararbeiten schreibt und den Prüfungsstresse meistert. Viel bedenklicher ist, dass immer mehr jungen Leute zu Berufspolitkern werden, ohne jemals einer „normalen“ Arbeit nachgegangen zu sein, ohne zu wissen, wie es ist, wenn die Sicherheit des Arbeitsplatzes auch von der Auftragslage abhängt, und wie es sich anfühlt, wenn vom Bruttoeinkommen nach Abzug von Steuern und Abgaben vielleicht nur noch die Hälfte bleibt. Wer sein Berufsleben mit Diäten von mehr als 10.000 Euro im Monat beginnt und schon nach vier Jahren im Bundestag bereits einen Pensionsanspruch von 1.000 Euro hat, ohne einen Euro Eigenanteil, der weiß nicht wirklich, was er beschließt, wenn er die Hand bei Steuer- und Rentengesetzen hebt. Kühnerts Berufserfahrung beschränkt sich auf einen Job bei einer SPD-Abgeordneten, weit weg vom Alltag eines Durchschnittswählers.

Abgeordnete ohne Beruf sind leicht zu steuern

Wer ohne Ausbildung und ohne Berufserfahrung ins Parlament einzieht, hat noch einen Nachteil: Er ist kaum noch „resozialisierungsfähig“, falls er sein Mandat eines Tages verlieren sollte. Wenn jemand mit Ende 40 nicht mehr vorzuweisen hat als vielleicht 16 Jahre Bundestag, findet kaum eine qualifizierte Tätigkeit, es sein denn als Lobbyist. Deshalb sind diese „Nur-Politiker“ aus der Sicht von Partei- und Fraktionsführungen nicht unwillkommen. Abgeordnete, die bei knappen Mehrheiten von der Parteilinie abweichen und damit ihr Mandat riskieren, sind in der Regel Männer und Frauen, die sich um eine „Anschlussverwendung“ keine Sorgen machen müssen, nicht solche, die ausschließlich von der Politik leben.

Eines ist klar: Kevins berufliche Perspektive hängt in erster Linie von den Delegierten der Berliner SPD und erst in zweiter von den Wählern. Ersteren wie Letzteren dürfte es aber ziemlich gleichgültig sein, dass Kühnert außerhalb der Politik nichts vorzuweisen hat. Sie werden danach entscheiden, ob sie einen Abgeordneten wollen, der mithilft, die SPD noch weiter nach links zu rücken – auch ohne Examen und Beruf.

Veröffentlicht auf www.focus.de am 5. August 2020.


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