02.01.2017

Auf Deutschland kommt es 2017 besonders an

In zwölf Monaten könnte der Jahresrückblick 2017 so ausfallen: Weil die Türkei das Flüchtlingsabkommen mit der EU nicht einhält, sind die Flüchtlingsströme nach Deutschland angeschwollen, islamistische Terroristen halten uns in Atem, Putin strebt mit Macht nach einer Renaissance des alten sowjetischen Reichs, auf die Vereinigten Staaten mit ihrem exzentrischen Präsidenten Donald Trump ist kein Verlass mehr, die Briten sind auf ihre Insel fixiert, und die Franzosen mit ihrer Präsidentin Marine Le Pen haben an Europa auch kein Interesse mehr. Das stärkt in Deutschland die Kräfte am linken und rechten Rand und nach der Bundestagswahl im September 2017 sind CDU/CSU und SPD zu schwach für eine Große Koalition.

Es kann aber auch anders kommen: Die Türkei kehrt allmählich zur Demokratie zurück, die Flüchtlingsströme aus dem Nahen Osten wie aus Afrika werden schwächer, Putin erkennt, dass er durch gute Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen mehr gewinnt als durch Säbelrasseln, Präsident Trump lernt, dass er mehr Polit-Profis in seiner Nähe braucht als Milliardäre, Großbritannien und die EU finden einen Weg zur Kooperation, die Franzosen wählen einen demokratischen Präsidenten, und bei uns kommt es entweder zu einer Jamaika-Koalition (CDU/Grüne/FDP) oder einer Ampel (SPD, Grüne, FDP).

Nun lehrt die Erfahrung, dass es selten so gut kommt, wie man es sich wünscht, und selten so schlecht, wie man es befürchtet. Doch muss selbst ein notorischer Optimist zugeben, dass die Aussichten auf das neue Jahr mit viel mehr Risiken behaftet sind als in früheren Jahren. Die Welt ist aus den Fugen geraten- und gerade deshalb gilt es, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Berlins Rolle im Kräftedreieck USA – Europa – Russland

Auf Deutschland kommt es angesichts einer höchst fragilen EU und zwei gleichermaßen unberechenbaren Egomanen im Weißen Haus wie im Kreml besonders an. Wer, wenn nicht Angela Merkel, könnte es schaffen, im Kräftedreieck USA, Europa, Russland für ein gewisses Maß an Vernunft und Stabilität zu sorgen? Sie ist aus gutem Grund zur stärksten Frau der Welt aufgestiegen, weil sie Festigkeit und Flexibilität zu verbinden weiß. Putin weiß, dass die deutsche Kanzlerin notfalls einem Konflikt nicht aus dem Weg geht, aber auch keinen Streit sucht. Trump wird das ebenfalls schnell lernen.

Für die Bundesrepublik ist 2017 das Jahr wichtiger Weichenstellungen. Landtagswahlen an der Saar, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sind im Frühjahr der Aufgalopp eines Dauerwahlkampfs mit der Bundestagswahl im September als Höhepunkt. Im wichtigen Land NRW wie im Bund spricht alles für Parlamente mit sechs Parteien: Union, SPD, Grüne, Linke, AfD und FDP. So bunt war Deutschland noch nie; so schwierige Regierungsbildungen, wie sie uns 2017 ins Haus stehen, hatten wir ebenfalls noch nicht. Denn angesichts der Aufsplitterung des Parteiensystems sind klassische Zweier-Koalitionen - Rot-Grün oder Schwarz-Gelb - kaum noch möglich. Auch für Schwarz-Grün, angeblich die neue Trendfarbe, wird es im Bund nicht reichen.

Wird der Stimmzettel kann zum Lottoschein?

Wie in den 1980er Jahren in Westdeutschland die Grünen und wie nach 1990 Die Linke alias PDS sorgt jetzt mit der teils nationalkonservativen, teils rechtspopulistischen, teils völkischen und teils antisemitischen AfD eine neue Kraft für neue Unübersichtlichkeit. Auch sie wird - das war bei Grünen und Linken damals nicht anders - als Schmuddelkind behandelt, mit dem niemand koalieren will. Das könnte Die Linke in die Rolle des Königsmachers bringen. Will die SPD nach 1982 endlich mal wieder den Kanzler stellen, wird ihr das nur in einem rot-rot-grünen Bündnis gewinnen. Denn die Freien Demokraten werden nach der zu erwartenden Rückkehr in den Bundestag kaum die Rolle eines Mehrheitsbeschaffers für Rot-Grün übernehmen. So könnte alles auf die Alternative "r2g" oder Schwarz-Grün-Gelb hinauslaufen. Wobei die Grünen in dieser Frage offenkundig gespalten sind: die einen zieht es zur Linken, die anderen zur Union.

So steht uns ein ziemlich einmaliger Wahlkampf ins Haus: Die SPD spekuliert auf Rot-Rot-Grün, wird das aber nicht offen sagen. Die CDU/CSU wird sich ebenfalls jede Option offenhalten, einschließlich einer Wiederauflage der Großen Koalition. Die FDP wird sich koalitionspolitisch ebenfalls bedeckt halten; man weiß ja nie. Mit Ausnahme der Linken wird niemand eine klare Koalitionsaussage wagen; auch die AfD mangels Koalitionspartner nicht. Die Bürger habe zwar die freie Wahl. Aber sie wissen nicht, ob zum Beispiel ihre Stimme für die Grünen letztlich Angela Merkel oder Sigmar Gabriel zur Kanzlerschaft verhilft. Da wird der Stimmzettel zwangsläufig zum Lottoschein.

Man muss davon ausgehen, dass es ein heftiger, ja teilweise ein schmutziger Wahlkampf wird. Drei große Themen werden die Auseinandersetzung bestimmen: innere Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und nicht zuletzt die Frage, wie die Deutschen ihr Land selbst sehen - als weltoffenen Nationalstaat, der zu allen Facetten seiner Geschichte steht, oder als multikulturelle Gesellschaft, die ihre eigenen Wurzeln im Zeichen falsch verstandener Toleranz leugnet. Da wird viel politisches Gift verspritzt werden über eine angeblich bereits vorhandene "Überfremdung" wie auch über vermeintlich schreiende Ungerechtigkeiten bei Einkommen und Vermögen.

Niemand kann mit Sicherheit vorhersagen, wie wir in zwölf Monaten da stehen werden. Was Trump und Putin machen, können die deutschen Bürger nicht beeinflussen, die Zusammensetzung des nächsten Bundestags aber sehr wohl. Das müssen sie aber auch wollen. Wer 2017 nur auf der Couch sitzt und schimpft, kann jedenfalls nichts bewegen. Das steht heute schon fest.

(Veröffentlicht in der SUPERillu Nr. 01/17 vom 29. Dezember 2016.)


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