13.08.2017

„Mitnahme von Mandaten ist unfair“ – „Die SPD sollte mit dem Fall Twesten souveräner umgehen“

Müller-Vogg: Der Wechsel der Landtagsabgeordneten Twesten von den Grünen zur CDU lässt die SPD vor Wut geradezu schäumen. Damit Sie mich nicht missverstehen: Ich halte es für unfair, wenn Abgeordnete beim Parteiwechsel auch ihr Mandat mitnehmen. Eine Mandatsniederlegung wäre die saubere Lösung. Aber man sollte auch bei Überläufern denselben Maßstab anlegen. In Thüringen hat Rot-Rot-Grün nur deshalb noch eine Ein-Stimmen-Mehrheit, weil der thüringische AfD-Mitbegründer und Höcke-Gefolgsmann Helmerich vor gut einem Jahr von der AfD direkt in die SPD-Fraktion wechselte. Gibt es, um die SPD-Wahlkampfrhetorik aufzunehmen, etwa „gute“ Überläufer, Intriganten, Verräter und „schlechte“? Ist gut, was Rot-Rot-Grün“ nützt – selbst wenn es sich um einen strammen Rechtspopulisten handelt?

Marquardt: Aber Herr Müller-Vogg, ich weiß ja, dass rot-rot-grüne Regierungen für Sie der Super-Gau sind. Deshalb können Sie aber nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. In Erfurt gab es nach dem Wechsel des AfD-Abgeordneten zur SPD auch einen Wechsel von der SPD zur CDU. „r2g“ hat also dieselbe Ein-Stimmen-Mehrheit wie nach der Wahl. In Hannover dagegen hat Rot-Grün durch den Fraktionswechsel – ob mit oder ohne „unmoralischem Angebot“ – die Mehrheit verloren. Das ist meines Erachtens etwas ganz anderes. Aber ich muss auch sagen, dass ich manche Äußerung sehr bedenklich finde. Wäre Frau Twesten beispielsweise zu uns gekommen, hätten alle gerufen, dass sie zur Vernunft gekommen ist. Wer in dieser Situation Verrat ruft, wurde sicher noch nie verraten. Aber ich persönlich kenne diesen Vorwurf auch, obwohl bei mir 5 Jahre zwischen meinem Austritt aus der PDS und meinem Eintritt in die SPD lagen. 

Müller-Vogg: Da haben wir keinen Dissens. Wer immer die Partei oder gar die Fraktion wechselt, wird von den einen als aufrechter Überzeugungstäter gefeiert und von den anderen als Verräter oder gar als gekaufter Handlanger verdammt. Bei Ihrem Genossen Stegner hat man geradezu den Eindruck, er sei überglücklich, endlich seinen gesammelten Vorrat an Verbalinjurien loswerden zu können (lacht). Aber um auf Thüringen zurückzukommen: Wie glaubwürdig ist der Kampf der SPD gegen Rechtspopulisten und Rechtsradikale, wenn sie einen Mitbegründer der AfD in Thüringen gerne bei sich aufnimmt – und zwar von heute auf morgen? Ohne diesen Überläufer wäre Bodo Ramelow nicht mehr im Amt. Rot-Rot-Grün in Erfurt wird also von einem ehemaligen Höcke-Kumpel am Leben gehalten. Oder „verrechnen“ Sie einfach den Wechsel der SPD-Abgeordneten zur CDU mit dem des AfD-Manns zur SPD und behaupten, dies alles entspreche dem Wählerwillen?

Marquardt: Ich gebe Ihnen Recht. Ich wünschte einige Vertreterinnen und Vertreter meine Partei würden souveräner mit dem Wechsel von Frau Twesten umgehen. Solche Wechsel wird es immer wieder geben. Allerdings kann ich den Ärger insofern verstehen, da eine von den Grünen nicht mehr nominierte Abgeordnete mal eben die Mehrheitsverhältnisse auf den Kopf gestellt hat. Und ja, in Thüringen besteht die Regierungsmehrheit weiter, weil ein ehemaliger AfDler nun bei uns ist. Ich verrechne nichts, stelle nur fest, dass in Thüringen nach wie vor entsprechend des Wählerwillens von 2014 regiert wird. Und jede echte demokratische Resozialisierung eines ehemaligen AfD-Mitgliedes kann ich nur begrüßen.

Müller-Vogg: Aber stellen Sie sich doch mal vor, was in diesem Land los wäre, wenn die CDU in Thüringen mit Hilfe von AfD-Überläufern die Regierung Ramelow stürzen würde. Da würde der Genosse Stegner von einem Nazi-Putsch schwadronieren und die sogenannte Antifa CDU-Büros zur Rettung der Demokratie verwüsten. Aber nochmals zu Hannover. Wenn ich lese und höre, wie erfolgreich Rot-Grün in Niedersachsen regiert hat, dann müssten doch alle Genossinnen und Genossen glücklich sein, dass sie – Frau Twesten sei Dank – bereits am 15. Oktober einen fulminanten Wahlsieg erringen können und nicht bis zum 14. Januar warten müssen. Im Ernst: Dass es Neuwahlen gibt, ist wirklich die sauberste Lösung.

Marquardt: Es ist richtig, dass es nicht unbedingt immer glaubwürdig ist, aber dennoch nachvollziehbar, dass für alle Parteien bei der Beurteilung derselben Ereignisse die eigenen Vor- und Nachteile ausschlaggebend sind. In Hannover sind Neuwahlen nun wirklich die naheliegende Lösung. Wie Sie wissen, bin ich von Hause aus Optimistin. Falls es in Niedersachsen für Rot-Gün nicht mehr reicht, dann vielleicht mit Rot-Rot-Grün (lacht).

Veröffentlicht auf www.cicero.de am 11. August 2017.


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