10.09.2020

„Ihr Völker der Welt, schaut lieber nicht auf diese Stadt“

Ob es in einem Land ordentlich zugeht oder nicht, hängt nicht in erster Linie von einem funktionierenden Rechtssystem ab, das Gesetzesverstöße aufdeckt und Täter bestraft. Mindestens ebenso wichtig für ein gedeihliches Zusammenleben ist das Verhalten der Bürger. Je mehr sich an Recht und Gesetz halten, umso reibungsloser gestaltet sich das Zusammenleben. Dabei muss der Staat ein Vorbild ein: Wenn nicht einmal Parlamente und Verwaltungen Vorschriften und Gesetz nicht strikt einhalten, wer soll es denn dann tun?

Das Land Berlin ist in dieser Beziehung genau das Gegenteil eines gesetzestreuen Vorbildes. Das Verwaltungsgericht hat jetzt die im Eiltempo geschaffenen „Pop-up-Radwege“ für rechtswidrig erklärt, also jene mit gelber Farbe hastig aufgemalten Spuren für Zweiradfahrer. Kurz davor hatten die Verwaltungsrichter das vom Senat verhängte Verbot der Großdemonstration gegen die staatlichen Corona-Auflagen vom Tisch gewischt. Ein paar Tage zuvor hatte das Bundesarbeitsgericht das Berliner Kopftuchverbot für Lehrerinnen gekippt. Gleich drei juristische Schlappen in zwei Wochen.

Nun kommt es immer wieder vor, dass Anordnungen von Regierungen und Verwaltungen oder Beschlüsse von Parlamenten einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten. Staatliche Instanzen stehen nicht über dem Gesetz und müssen ihr Handeln gegebenenfalls gerichtlich überprüfen lassen. Das unterscheidet den demokratischen Rechtsstaat von einem totalitären Regime. Auch kann nie ausgeschlossen werden, dass Juristen in Ministerien bisweilen eine andere Rechtsauffassung haben als Juristen an Gerichten. Die Volksweisheit, wonach drei Juristen vier Meinungen haben, kommt ja nicht von ungefähr.

Dennoch fällt auf, dass der Berliner Senat häufig mit der Justiz auf Kriegsfuß steht. Denn offenbar regiert Rot-Rot-Grün in der Hauptstadt nach dem Motto „entscheiden first, nachdenken second“. Ob man mehr Radwege für vernünftig oder nicht hält, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Gutes Regieren zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Regierenden sich penibel im Rahmen des rechtlich Möglichen bewegen oder sich durch entsprechende Gesetzesänderungen mehr Spielraum verschaffen. SPD, Grüne und Linke wursteln dagegen fröhlich vor sich hin und meinen, wo ein Wille sei, werde sich ein Weg schon finden. Drei kassierte Urteile innerhalb so kurzer Zeit fällt also in die Rubrik „Dit is Berlin“.

Man mag das als Berliner Provinzposse abtun. Doch versuchen SPD, Grüne und Linke auf der Ebene des Stadtstaates zu demonstrieren, wie eine angeblich fortschrittliche Politik „links der Mitte“ auch im Bund aussehen könnte. Allerdings ist Berlin eher Spitzenreiter in der Sparte „Pleiten, Pech und Pannen“ als beim guten Regieren. Den Befürwortern von Rot-Rot-Grün im Bund wäre deshalb zu empfehlen, im Bundestagswahlkampf eher nicht auf Berlin als leuchtendes Beispiel zu verweisen: „Ihr Völker der Welt, schaut lieber nicht auf diese Stadt.“

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 8. September 2020)


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