26.04.2021

Baerbocks mediale Verklärung

Die Grünen sind seit vergangenem Montag da, wo die CDU/CSU bereits im Mai 2005 war: Sie schicken eine Frau ins Rennen um das Kanzleramt. Nun gut, es gibt schon ein paar Unterschiede zwischen der Ausrufung Angela Merkels vor 16 Jahren und der aktuellen von Annalena Baerbock: Die CDU-Frau war zehn Jahre älter als die Grüne (40), hatte bereits acht Jahre als Bundesministerin hinter sich und zweieinhalb als Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion.

Der größte Unterschied zwischen damals und heute ist der mediale Hype, den Baerbocks Nominierung ausgelöst hat. Bei Merkel gab es ein paar verwunderte Kommentare, dass ausgerechnet die verknöcherte, von Machos dominierte Union eine relativ junge Frau auf den Schild hebe. Selten fehlte 2005 der Hinweis, eine Frau an der Spitze mache jedoch aus der Union noch keineswegs eine moderne Partei. Heute könnte man meinen, der Himmel habe sich aufgetan „und wir sahen den Geist Annalenas wie eine Taube herabkommen und auf uns niederlassen.“

„Endlich anders“ – endlich!

Nein, so stand es nirgendwo zu lesen, war es nirgends zu hören. Aber die mediale Verklärung der grünen Spitzenfrau kommt wohl nur deshalb ohne biblische Bilder aus, weil die Zahl von Redakteuren mit Bibelkenntnissen minimal sein dürfte. „Endlich anders“ jubelt der Stern auf dem aktuellen Titel. „Die Frau für alle Fälle“ verkündet der „Spiegel“ und teilt auf dem Cover zudem mit, dass an ihr keiner mehr vorbeikomme. Die „Zeit“ verleiht Baerbock das Güteprädikat „Die Überlegene“. Wer wollte da noch zweifeln, dass die Grüne Kanzlerin werden soll, ja werden muss? Wer sonst sollte die Bundesrepublik und das Weltklima retten?

Am vergangenen Montag kulminierte eine absehbare Entwicklung. Die Grünen als dezidiert feministische Partei hatten gar keine andere Wahl, als Baerbocks selbstbewussten Griff nach der Kandidatur abzunicken, so wie früher CDU und CSU die erneute Kandidatur ihres amtierenden Kanzlers oder der Kanzlerin abzunicken pflegten. In einer strikt nach Geschlecht quotierten grünen Partei haben nun einmal Frauen das Recht des ersten Zugriffs, wobei von dem Begriff „Frauen“ laut Frauenstatut alle erfasst werden, „die sich selbst so definieren“. Der einzige, dem das nicht bewusst war, scheint Robert Habeck gewesen zu sein, dem Baerbock einen „bittersüßen Tag“ bescherte. Wie schön, dass der „neue Mann“ weinen darf, zumindest verbal.

Die Medien feierten Baerbocks ganz normales, machtbewusstes Verhalten frenetisch als gigantischen Durchbruch der Frauen im politischen Geschäft. Und das nach fast 16 Jahren Merkelscher Kanzlerschaft! Zugleich beeilten sich alle darauf hinzuweisen, dass Baerbock selbstverständlich keine Quotenfrau sei. Wer die Vorgeschichte nicht kennt, hätte den Eindruck gewinnen können, hier hätten zwei Bewerber in unzähligen Diskussionsrunden die Parteibasis umworben, und Baerbock habe nach hartem, innerparteilichem Wahlkampf obsiegt. Nun ja, bei Lesern und Fernsehzuschauern wird schon was hängenbleiben.

Jubelnde Interviewer

Frisch gekürt, absolvierte die Kanzlerkandidatin einen Interview-Marathon, in dessen Verlauf Baerbock „blühenden Unsinn redete“, wie selbst die den Grünen zugeneigte „Süddeutsche Zeitung“ bemerkte. Da half nach Beobachtung der „SZ“ der Faktor Frau: „Hätte zum Beispiel Christian Lindner (…) so ein Zeug reden sollen, da wäre aber was los gewesen im Heute-Journal.“ Der erste Höhepunkt der Annalena-Verehrung war jedoch zuvor schon bei ihrem Interview mit dem bisher nicht durch qualifizierte Politikberichterstattung aufgefallenen TV-Sender „Pro Sieben“ erreicht. Da rief ein hingerissener Moderator nach Baerbocks letzter Antwort „Das war toll!“, ehe er zusammen mit der Co-Moderatorin der „Gästin“ Beifall spendete. Man sieht, der in den Öffentlich-Rechtlichen praktizierte Haltungsjournalismus hat die Privaten erreicht.

Es drängt sich der Eindruck auf, einige Medien hätten aus ihrer fehlgeschlagenen Strategie von 2017 gelernt, als sie den „Schulz-Zug“ auf Hochtouren brachten, den SPD-Kandidaten als „Gottkanzler“ verklärten und dann erleben mussten, dass die von ihnen kreierte Lichtgestalt Martin Schulz sich als Hinterbänkler im Bundestag wiederfand. Von der „Gottkanzlerin“ Baerbock hat folglich noch niemand geschwärmt. Wobei noch zu klären wäre, ob es gendergerecht „Gott-Kanzlerin“ oder „Göttinnen*Kanzlerin“ heißen muss.

Die Baerbock-Fans in den Medien tun alles, um ihrer Kandidatin die besten Eigenschaften zuzuschreiben. Angeblich kennt sie von allem und jedem selbst das Kleingedruckte, angeblich geht sie stets so gut vorbereitet in Gespräche wie ihre wahrscheinliche Vorgängerin Merkel, angeblich kann sie prima zuhören, und, und, und. Eine gute Freundin ist sie natürlich ebenfalls und lässt sich von Männern nicht den Schneid abkaufen, was allerdings bei den feministischen Grünen nicht allzu schwer sein dürfte.

Keine Regierungserfahrung? Umso besser!

Gerne befördern ihre Förderer sie zur Juristin. Doch ist eine Frau, die in Völkerrecht einen Masterabschluss vorzuweisen hat, nicht vergleichbar mit einer Volljuristin mit zwei Staatsexamina. Wer wird freilich so kleinlich sein in diesem „ja doch, historischen Moment“ („Zeit“).

Selbst wohlwollende Medien kennen das größte Handikap der Kandidatin, die keinen einzigen Tag ihres Berufslebens außerhalb der politischen Blase verbracht hat: ihre fehlende Erfahrung als Ministerin oder an der Spitze eines Apparats. Das wird aus der Sicht des „Stern“ mehr als wettgemacht dadurch, dass sie „anders“ sein soll – „endlich anders“. Da hört man die Redaktion geradezu kollektiv aufatmen, dass – endlich – die Chance für eine von einer Grünen geführten Regierung besteht.

Baerbock selbst hat den Vorhalt, ihr fehle Regierungserfahrung, recht geschickt gekontert: „Ich stehe für Aufbruch“. Nun stehen Regierungs- oder Managementerfahrung und das Streben nach einem neuen Anfang – theoretisch jedenfalls – nicht im Widerspruch zueinander. „Die Frau für alle Fälle“, der zudem „Überlegenheit“ attestiert wird, kann sich auch hier auf ihre publizistischen Helfer verlassen. „Regierungsferne könnte in dieser Lage sogar ein strategischer Vorteil sein“, analysiert die „Zeit“. Der „Spiegel“ geht noch weiter. „Die Herausforderungen der nächsten Jahre sind so neu, so fundamental anders, dass Erfahrung sogar hinderlich sein könnte“. Und: „Das Neue, Visionäre entspringt oft mentaler Jugendlichkeit“. Muss demnach Habeck um einen Platz am Kabinettstisch bangen, wo seine Erfahrungen als Landesminister für eine grüne Politik des Aufbruchs sogar hinderlich sein könnten? Was für eine traurige, bittersüße Perspektive.

Wie lange halten die Flitterwochen

Annalena Baerbock hat, unabhängig von all den Jubelarien, einen beeindruckenden Aufstieg hinter sich. Sie hatte das Standvermögen, gegenüber Habeck gnadenlos die Frauenkarte zu ziehen, ungeachtet ihrer „Sorge, als Quotenfrau zu gelten“ („Zeit“). Man oder frau muss erst einmal in die Position kommen, so selbstbewusst und strategisch geschickt den eigenen Anspruch durchsetzen zu können. Simone Peter, ihre Vorgängerin als Co-Vorsitzende der Partei, wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Baerbock ist zweifellos die stärkste unter den Frauen, die die Grünen bisher hervorgebracht haben. Ob sie das bleiben wird, liegt an den Wählern.

Es ist offen, wie lange der Honeymoon zwischen Medien und Kandidatin anhalten wird. Bei Martin Schulz haben selbst die größten Bewunderer bald erkennen müssen, dass ihr Kandidat nicht hielt, was sie sich von ihm versprochen hatten. Das könnte auch Baerbock blühen, die – trotz angeblich fleißigen Aktenstudiums – schon manchen „blühenden Unsinn“ („SZ“) erzählt hat. Doch darf die grüne Kanzleramtsaspirantin darauf bauen, dass die meisten Medien einen Regierungswechsel herbeizuschreiben und herbeizusenden versuchen – mit starken Grünen und vor allem ohne CDU/CSU.

Das klare Ziel des „Spiegel“: Die CDU/CSU muss weg

Nicht alle sind so offen und ehrlich, was die eigene Wahlkampf-Agenda angeht, wie der „Spiegel“. In der Ausgabe vom 9. April mit einem tollpatschigen Laschet auf der Titelseite heißt es im Leitartikel: „Ab in die Opposition. Die Union hat keinen geeigneten Kanzlerkandidaten. Nach 16 Jahren ist sie verbraucht und es wird Zeit für einen Neuanfang jenseits der Regierung.“ So dürfte in den meisten Redaktionen gedacht und gehandelt werden, allen voran bei ARD und ZDF. Die ehemalige Trampolinturnerin Baerbock bereitet sich auf ihren bisher höchsten Sprung vor. Die Medien werden schon für die maximale Federkraft sorgen. Daran besteht nach dem Auftaktspringen in dieser Woche kein Zweifel.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 25. April 2021)


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