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10.01.2009

Wo selbst Eigentore Beifall finden

Zehn (nicht zu ernst zu nehmende) Grundregeln zum besseren Verständnis von Politik


Was haben Fußball und Politik gemeinsam? Sehr viel. Man kann aus beidem eine Wissenschaft machen – oder das Ganze auf ein paar Grundregeln zurückführen. Seit Sepp Herberger muss man beim Fußball drei Dinge wissen: Der Ball ist rund. Das Spiel dauert 90 Minuten. Der nächste Gegner ist immer der schwerste. Dazu gibt es noch die Fußball-Weisheit von Adi Preissler: „Entscheidend ist auf’m Platz“. Dann ist wirklich alles gesagt.

Politik ist etwas komplizierter. Da sind mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft und im Spiel zu halten. Auch gehören Schüsse aufs eigene Tor zum politischen Spiel, finden sogar Eigentore meist mehr Aufmerksamkeit als reguläre. Doch Politik lässt sich ebenfalls auf einige Grundregeln reduzieren – wenn man das Ganze nicht allzu ernst nimmt. 


Regel Nummer 1: Mehrheit ist Mehrheit

Konrad Adenauer hatte 1949 nur eine einzige Stimme mehr – seine eigene. Willy Brandt fehlten 1972 ein paar Stimmen, um das Misstrauensvotum gegen ihn zu überstehen. Herbert Wehner ließ da von seinem Adlatus Karl Wienand mit Geld nachhelfen; die Stasi tat das Ihre. Und Brandt blieb im Amt. 

Gerhard Schröder hatte 1998 Angst, einige „rechte“ Sozialdemokraten könnten ihn nicht wählen. Er fragte seinen Duz-Freund Wolfgang Gehrke von der PDS, warum der ihn nicht wähle. Gehrke versprach ihm sieben Stimmen – und Schröder hatte sieben mehr, als er brauchte.
Fazit: Wer hat, der hat. Und hinterher interessiert es niemanden, wie die Mehrheit zustande kam.


Regel Nummer 2: Nach der Wahl ist vor der Wahl.

Gewiss, Wahlen sind Höhepunkte und Einschnitte. Aber kein Anlass für eine Pause. Im Gegenteil: Für Wahlsieger geht es erst richtig los: Koalitionen schmieden, Regierungen bilden. Und das alles mit Blick auf die nächste Wahl: Wie können wir den Erfolg in vier oder fünf Jahren wiederholen? 

Verlierer haben zwei Möglichkeiten: auszusteigen oder weiterzumachen. Wer sich fürs Dabeibleiben entscheidet, muss zwei Dinge tun: Erstens eine Wahlanalyse vorlegen, wonach er die Wahl „eigentlich“ doch gewonnen oder zumindest einen Achtungserfolg errungen hat. Und dann Verbündete suchen für den nächsten Anlauf.

Fazit: Politik ist ein Karussell, das niemals stillsteht.


Regel Nummer 3: "Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd."

Das wusste schon Otto von Bismarck: Ehrlich währt in der Politik nicht am längsten. Sich ins beste Licht zu setzen, sich besser darzustellen als man ist, ist freilich keine auf die Politik beschränkte Übung. Das tut man/frau bei jedem Rendevouz. 

Die plumpe Lüge („Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer“)  ist eher die Ausnahme. Wahlkämpfer operieren bevorzugt mit halben Wahrheiten, täuschen durch Weglassen. 

Wenn absolute Mehrheiten die Ausnahme und Koalitionen die Regel sind, lässt sich der Widerspruch zwischen Wahlkampfreden und Regierungshandeln auf den Koalitionspartner schieben. „Wir allein hätte ja gerne …“

Fazit: Die Wahrheit ist immer relativ.


Regel Nummer 4: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.“

Verbürgt ist es nicht, dass Konrad Adenauer das gesagt haben soll. Aber zugeschrieben wird der Spruch nicht von ungefähr dem „Alten von Rhöndorf“. Weil er so gut zu dem geschmeidigen Fuchs passt.

Politiker reden gerne so, als gehörte jedes Wort in Stein gemeißelt. Dabei reden sie mal so und mal so. Was nicht zwangsläufig auf Charakterlosigkeit zurückzuführen ist. Wer weiß, was er will, benutzt nur bisweilen unterschiedliche Begründungen für dasselbe Vorhaben. Das ist gerade die hohe Kunst der Politik: Sich sprachlich dem Zeitgeist anzupassen, ohne den Kurs zu wechseln.

Fazit: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!


Regel Nummer 5: „Es genügt nicht, Recht zu haben. Man muss auch Recht bekommen.“

Franz-Josef Strauß hat es immer beklagt: Dass in sich selbst verliebte Parteifreunde davon ausgehen, die Wähler würden sie – mangels Alternative – mehr oder weniger automatisch wählen. Tatsächlich schenkt der Bürger seinen Politikern nichts; er will umworben sein.

Nicht der Erfolg von gestern wird in erster Linie belohnt, sondern die Aussicht auf die strahlende Zukunft. Wobei die Partei es leichter hat, die schon Erfolge vorweisen kann.

Um „Recht zu bekommen“ muss man kämpfen (Siehe Regel Nummer 2: Nach der Wahl ist vor der Wahl.) Aber auch permanent aufklären und informieren. 

Fazit: Entscheidend ist an der Wahlurne. 


Regel Nummer 6: „Entscheidend ist, was hinten raus kommt.“

Helmut Kohls Standardsatz zeigt, wie gnadenlos Politik ist. Man kann es auch so übersetzen: Nur der Erfolg zählt, nicht die gute Absicht, der pausenlose Einsatz, die schier übermenschliche Anstrengung. Das gilt für das Verhältnis zwischen Bürgern und Politikern, erst recht innerhalb von Parteien.

Der Bürger will Erfolge sehen. Bleiben sie aus, gibt er der Opposition eine Chance. Da spielt es keine Rolle, ob die Regierung versagt oder selber ein Opfer globaler Entwicklungen ist.

Übrigens: Niemand geht gnadenloser mit Politikern um als die Parteien selbst. Die Wahl verloren? Weg mit ihm!

Fazit: Für Erfolg gibt es keinen Ersatz. 


Regel Nummer 7: „Opposition ist Mist.“

In Festreden wird gerne beschworen, wie wichtig die Aufgabe der Opposition in einer Demokratie sei: als Kontrolleur, als Antreiber, als Regierung im Wartestand. Doch nicht jeder gibt es so offen zu wie Franz Müntefering: Politiker wollen an die Macht. Alles andere ist Mist.

Es liegt auch auf der Hand: Nur in der Regierung lässt sich wirklich etwas gestalten. Ganz abgesehen davon: Den Regierenden geht es materiell besser als den Opponierenden. Und die Medien widmen ihnen ohnehin mehr Aufmerksamkeit. Zur Macht noch Dienstwagen und Scheinwerferlicht – Politikerherz, was begehrst du mehr?

Fazit: Macht nutzt ab – vor allem den, der sie nicht hat.


Regel Nummer 8: „Und was wird dann aus mir?“ 

Was ist die frühere Ministerpräsidentin Heide Simonis für diesen Satz gescholten worden! Dabei war sie nur ehrlich. Sie wollte damals in Kiel keine Große Koalition, weil sie dann nicht Chefin geblieben wäre. So einfach ist das.

Ein Politiker mag noch so sehr das Gemeinwohl oder die Ideale seiner Partei beschwören: Letztlich will er ein Amt, und zwar ein möglichst hohes. Im Idealfall, um etwas zu gestalten; häufig nur, um es zu haben – samt der dazu gehörigen Privilegien.

Ob die eigene Partei regiert oder nicht: Für die meisten Politiker kommt es darauf an, dass sie dem Parlament angehören. 

Fazit: Auch Politiker sind Menschen.


Regel Nummer 9: „Ein Wortbruch hat viele Facetten.“

Natürlich wird der Bürger nicht nur vor Wahlen, sondern noch häufiger zwischen den Wahlen getäuscht: am meisten durch das Verkünden von halben Wahrheiten, manchmal auch durch blanke Lügen. 

Nicht jeder treibt es so unverfroren wie die hessische SPD-Frau Andrea Ypsilanti vor der Landtagswahl 2008. „Niemals mit den Linken“ verkündete sie in zahllosen Varianten. Sprach’s – und sprang nach der Wahl in Richtung rot-grün-rotes Bett. Nur sprang sie etwas zu kurz…

Ihre Rechtfertigung: „Ein Wortbruch hat viele Facetten.“ So wurde aus einem Wahlversprechen eine facettenreiche Null-Aussage.

Fazit: Weibliche Politiker sind anders – nicht besser.


Regel Nummer 10: „In der Politik ist alles möglich – und auch das Gegenteil davon.“

Angeblich geht es in der Wirtschaft streng rational und höchst effizient zu, in der Politik dagegen emotional und chaotisch. Nur: Ersteres ist falsch, Letzteres dagegen richtig. 

Günter Beckstein hatte 2005 angesichts der auf Seiten der Union etwas irrationalen Regierungsbildung (Stoiber ja, Stoiber nein, Beckstein raus, Seehofer rein) völlig Recht: Alles ist möglich – selbst das Gegenteil. Das zeigte sich auch im Koalitionsvertrag: SPD-Ja zu 3 % mehr Mehrwertsteuer, CDU-Ja zu Mindestlohn und Antidiskriminierungsgesetz. 

„Anything goes“ galt schon vor 2005 und wird auch nach 2009 gelten. 

Fazit: In der Politik geht’s zu wie im wahren Leben.


Erstveröffentlichung: „trend – Zeitschrift für Soziale Marktwirtschaft“, Nr. 117 / IV. Quartal 2008.



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