06.09.2021

Rot-Grün-Rot: Die SPD schließt nicht aus, wozu sie bereit ist

Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Wer heute vor Rot-Grün-Rot warnt, legt keineswegs nur die alte „Rote Socken“-Platte der CDU von 1994 wieder auf. Damals ging es darum, ob die in PDS umbenannte SED vier Jahre nach dem Ende der DDR im vereinten Deutschland wieder an einer Regierung beteiligt sein sollte. Es ging hier nicht zuletzt um eine Frage der politischen Hygiene. Wahlfälscher und Mauer-Befürworter wie Hans Modrow und andere SED-Altkader sollten nicht schon wieder an die Schalthebel dürfen.

Heute ist die Lage eine andere. Die heutigen Führungskräfte der Linken sind zu jung, um vor 1989 in der DDR maßgebliche Funktionen inngehabt zu haben. Dass viele von ihnen wie Dietmar Bartsch schon in jungen Jahren treue Parteigänger der SED waren und teilweise in Moskau ausgebildet worden sind, steht auf einem anderen Blatt.

Dezidiert linke Republik wird realistischer

Im Jahr 2021 sprechen 2021 weniger historische als aktuelle Gründe gegen Rot-Rot-Grün. Die Linke will eine andere, eine in vielerlei Hinsicht dezidiert linke Republik. Dieses Ziel scheint realistischer geworden zu sein, weil die Esken/Walter-Borjans/Kühnert SPD inhaltlich viel näher an die Linke herangerückt ist, als das zu Zeiten von Rudolf Scharping und Gerhard Schröder der Fall war. Auch bei den Grünen fühlten sich viele in einer Regierung mit der Linken wohler als an der Seite der CDU/CSU.

Olaf Scholz darf unterstellt werden, dass ihm eine Ampel mit Grünen und FDP lieber wäre als „RGR“. Aber Koalitionen werden nicht von Spitzenkandidaten geschlossen, sondern von Parteien, woran seine Parteivorsitzende Saskia Esken kürzlich erinnert hat. Das war eine klare Ansage: „Lieber Olaf, glaube ja nicht, dass Du nach dem 26. September allein bestimmen kannst.“ Folglich schließt Scholz nicht aus, sich von einem Linksbündnis zum Kanzler wählen zu lassen. Würde er das wagen, bekäme er sofort Ärger mit dem überwiegend nach links tendierenden eigenen Funktionärscorps. Das könnte so kurz vor der Wahl manche potentiellen Wähler verstören.

Lavieren von Scholz wird wohlwollend interpretiert

Wer Rot-Rot-Grün partout nicht ausschließt, der ist auch innerlich bereit dazu. Das ist ähnlich wie bei der Atombombe: Ein Land, das die Bombe besitzt, sie aber auf keinen Fall einsetzen will, kann damit auch niemandem drohen.

Gleichwohl versuchen Heerscharen von Kommentatoren, das Lavieren von Scholz wohlwollend zu interpretieren. Tenor: Der SPD-Kanzlerkandidat schließe RGR nur deshalb nicht aus, um in Koalitionsverhandlungen gegenüber der FDP nicht allzu große Zugeständnisse machen zu müssen. In Wirklichkeit wolle er RGR gar nicht.

Das unterstellt zunächst einmal ein hohes Maß an Naivität oder Dummheit bei der FDP. Christian Lindner wäre demnach bei Ampel-Verhandlung sehr kompromissbereit, um Deutschland vor einer rot-grün-roten Alternative zu bewahren, die Scholz in Wirklichkeit gar nicht will. Da fällt einem ein Satz von Guido Westerwelle ein: „Wir sind liberal, aber nicht blöd“. Nein, Lindner ist gewiss nicht blöd. Er weiß sehr wohl, dass Scholz und Genossen inhaltlich so große Schnittmengen mit der Linken haben, dass sie mit ihnen koalieren könnten.

Fällt die FDP um?

Sollten die Regierungsbildung auf die Alternative Ampel oder Rot-Grün-Rot hinauslaufen, wird das Lindner und die FDP unter Druck setzen. Dann haben die Freien Demokraten nur zwei Möglichkeiten. Eine Variante: Die Freien Demokraten machen inhaltliche Zugeständnisse an SPD und Grüne und begründen das gegenüber ihren Wählern damit, dass Rot-Grün-Rot für Deutschland die weitaus schlechtere Lösung wäre. Diese Konstellation zu verhindern, wäre somit erhebliche Abstriche am FDP-Programm wert.

Die andere Möglichkeit: Die FDP hält an den von Linder gezogenen roten, besser: gelben Linien fest. Dann müssten SPD und Grüne auf Steuererhöhungen ebenso verzichten wie auf die Besteuerung von Vermögen, auf den Mindestlohn von 12 Euro ebenso wie auf eine Klimapolitik, die zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie geht. Lindners Feststellung, „ein attraktives Angebot von Herrn Scholz wäre eine Überraschung“, spricht ja für sich. Die FDP braucht für eine Regierungsbeteiligung von Scholz jedenfalls mehr, als Esken und Kühnert zulassen würden. Mit anderen Worten: Eine Ampel kann es nur geben, wenn die FDP umfällt.

„RGR“ würde das Land deutlich verändern

Gehen wir also davon aus, dass die FDP hart bleibt und Rot-Grün-Rot wird Wirklichkeit. Mit einem Bundeskanzler Scholz, einer Vizekanzlerin Annalena Baerbock und einem weiteren Vizekanzler Dietmar Bartsch würde aus der Bundesrepublik keine „DDR 2.0“. Aber RGR würde das Land deutlich verändern – wirtschaftspolitisch, finanzpolitisch, sozialpolitisch, außenpolitisch und nicht zuletzt mit Blick auf das politische Klima.

In der Wirtschaftspolitik wird „mehr Staat, weniger Markt“ zur Leitschnur. Regulierung und Reglementierung setzen den Unternehmen neue Grenzen. Die Grünen setzen den Vorrang der Klimapolitik vor der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen durch. Zügig werden die rechtlichen Voraussetzungen für einen Mietendeckel geschaffen, der Mieten in vorhandenen Wohnungen senkt, aber private Investoren vom Wohnungsmarkt abschreckt. Am Arbeitsmarkt wird die Tarifautonomie weiter eingeschränkt. Der Mindestlohn wird zu einem politischen Lohn, über dessen Höhe die Wähler entscheiden.

Schuldenbremse käme in die Geschichtsbücher

In der Finanzpolitik wird Umverteilung zur wichtigsten Leitlinie und die Schuldenbremse ein Fall für die Geschichtsbücher. Zur Finanzierung zahlloser sozialer Wohltaten steigen die Steuern für alle, die mehr können und mehr leisten als der durchschnittliche Arbeitnehmer. Vermögen werden kräftig besteuert, ebenso Erbschaften. Die verheerenden Auswirkungen auf die Familienunternehmen, das Rückgrat unserer Wirtschaft, nehmen die neuen Wirtschaftslenker unbeeindruckt zur Kenntnis.

In der Sozialpolitik steht die Rückkehr in die Vollkasko-Gesellschaft an, von der Rot-Grün einst mit der „Agenda 2010“ abgerückt war. Bei Hartz IV wird nicht mehr überprüft, ob jemand nicht arbeiten kann oder nicht will; das bedingungslose Grundeinkommen kommt so durch die Hintertür. Die Renten werden jenseits der Rentenformel steigen, was das Finanzdefizit nur vergrößert. Alle müssen Beiträge in eine Einheits-Rentenkasse zahlen. Das Nebeneinander von gesetzlichen, Ersatz- und privaten Krankenkassen mündet in eine staatliche Zwangs-AOK.

In der Außenpolitik kommt es zu keinem Austritt aus der Nato. Aber die Bundesrepublik wird sich neuen robusten Auslandseinsätzen verweigern und es sich in der Rolle eines moralisierenden Beobachters der Weltpolitik bequem machen. Das Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben wird aufgegeben. In Europa wird der Weg zur Schulden- und Haftungsunion konsequent fortgeführt. Im Zweifelsfall haften wir für die Folgen politischer Fehlentwicklungen in anderen EU-Ländern – und unsere „Reichen“ finanzieren das.

Unliebsame Meinungen würden verbannt

Ebenfalls gravierend wären die Auswirkungen auf das gesellschaftspolitische Klima. RGR würde alles fördern, was politisch korrekt ist – und damit unliebsame Meinungen aus dem politischen Diskurs verbannen. Der Kampf gegen Rassismus und Antifaschismus wird massiv gefördert, mit absehbarer Schlagseite: Wer nicht links genug ist, wird als Nazi an den Pranger gestellt. Diesen Kampf werden in erster Linie vom Staat finanzierte Anti-Rassismus-Beauftragte auf allen Ebenen führen. Zugleich würde damit ein attraktiver Jobmarkt für Parteigänger geschaffen.

Minderheiten als Maß der Dinge

Unter RGR wird Identitätspolitik ganz großgeschrieben. Die Befindlichkeit einzelner gesellschaftlicher Gruppen und Minderheiten hat Vorrang vor dem Zusammenhalt der Gesellschaft. Im Mittelpunkt allen gesellschaftspolitischen Bemühens stehen Kleingruppen, die aus Gründen der Abstammung, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, einer Vorliebe für einen bestimmten Lebensstil oder aus sonstigen, feinsinnig ausgedachten „Benachteiligungen“ einen Opferstatus begründen können. Auf der Strecke bleiben die „Normalos“.

Bye, bye Leistung

Gerechtigkeit wird als Gleichheit definiert. Das Leistungsprinzip wird ausgehöhlt. Diese Orientierung der Politik an Minderheiten führt zu Quotierung in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft: nach den Frauen kommen die Migranten, dann die Lesben und Schwulen. Das Leistungsprinzip wird folglich auf zweifache Weise unterminiert: durch eine leistungsfeindliche Steuerpolitik wie durch den Vorrang nicht leistungsbezogener Kriterien bei der Besetzung von Positionen.

Ein düsteres Szenario, gewiss. Aber in der SPD, bei den Grünen und in der Linkspartei träumen nicht wenige davon. Die Co-Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow sieht die Lage so: „Das Fenster ist so weit geöffnet wie noch nie. Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Die Genossin hat Recht.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 6. September 2021)


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