18.01.2022

Mindestlohn: Die CDU/CSU sitzt in der selbst gebauten Falle

So eine Opposition wie die CDU/CSU wünscht sich wohl jeder Regierungschef. Im Wahlkampf hatte sich Olaf Scholz mit seinem Mindestlohn-Versprechen von 12 Euro als Robin Hood von 12 Millionen Geringverdienern präsentiert. In der ersten großen Bundestagsdebatte hat die Union diesen Plan jetzt mehr oder weniger abgenickt – eher aus Verzweiflung denn aus Überzeugung.

Hermann Gröhe, für Arbeit und Soziales zuständiger stellvertretender Fraktionsvorsitzender, attestierte der Ampel im Bundestag „gute Gründe“ für die angestrebte kräftige Anhebung des Mindestlohns. Axel Knoerig, stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU- Sozialausschüsse, sprach sogar fast wie ein Mitglied einer der drei Regierungsfraktionen: „Wir stehen an der Seite derer, die einen Mindestlohn bekommen. (…) Deswegen sagen wir: Das Ziel von 12 Euro ist richtig.“

Natürlich ist die Union nicht damit zufrieden, dass Scholz unter Mithilfe ausgerechnet der FDP das einführt, was sie einst vehement bekämpft hatte: eine politische Lohnuntergrenze, über die künftig die Wähler entscheiden statt der von der Regierung eingesetzte Mindestlohnkommission. Auf Vorschlag dieses Gremiums mit Vertretern von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Wissenschaft ist der Mindestlohn zum 1. Januar bereits auf 9,82 Euro angehoben worden; vom 1. Juli an sollte er auf 10,45 Euro steigen. Damit läge diese Mindestvergütung 23 Prozent über den 8,50 Euro bei ihrer Einführung im Jahr 2015.

Ordnungspolitik versus Herz für kleine Leute

Bei Licht besehen sitzt die Union in einer Falle, an deren Aufstellung sie 2014 bei der Beschlussfassung über den Mindestlohn maßgeblich beteiligt war. Weil die SPD in der zweiten GroKo unter Angela Merkel auf einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn drängte, gab die Union ohne nennenswerte Gegenleistung nach. Schließlich signalisierten alle Umfragen, dass die Mehrheit der Wähler nichts dagegen hat, bei der Lohnfindung Druck auf Arbeitgeber auszuüben. Ohnehin handelte Bundeskanzlerin Merkel gerne nach dem Motto, es könne ja an der Wahlurne nicht schaden, wenn ihre Regierung des Volkes Wille geschehen lasse.

Diese Erfahrung haben bei der Bundestagswahl auch Scholz und die SPD gemacht. Das Mindestlohnversprechen hat dazu beigetragen, dass Wähler von der CDU/CSU, der Linken und selbst von der AfD zur SPD gewechselt sind. Mit einem strikten Nein zu den 12 Euro würde die CDU/CSU nun Gefahr laufen, von Sozialdemokraten und Grünen der sozialen Kälte geziehen zu werden. Was aber könnten ordnungspolitische Argumente gegen einen „politischen Lohn“ ausrichten gegen den Vorwurf, die Union habe halt kein Herz für die kleinen Leute?

Ohne PDS gäbe es keinen Mindestlohn

Zweifellos verhindert eine Lohnuntergrenze, dass Arbeitgeber ihre Mitarbeiter zu unfairen Bedingungen schuften lassen. Der aller dirigistischer Eingriffe unverdächtige Ludwig Erhard hatte schon 1952 mit dem „Mindestarbeitsbedingungengesetz“ die Möglichkeit geschaffen, staatliche Mindeststandards festzulegen. Allerdings hat keine Regierung davon jemals Gebrauch gemacht; selbst die SPD-Kanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder hielten offenbar nicht viel davon. Denn die Sozialdemokraten waren – schon im Interesse der Gewerkschaften – stets Gralshüter der Tarifautonomie. Das änderte sich erst, als die PDS (heute: Die Linke) das Thema Mindestlohn auf die Tagesordnung setzte und einzelne Gewerkschaften erkennen mussten, dass sie zu schwach waren, um eine bessere Bezahlung der unteren Lohngruppen durchzusetzen.

Der wirtschaftspolitische Flügel der CDU/CSU hatte stets schwere Bedenken gegen staatliche Eingriffe in die Lohnfindung. Mit der Einbindung der Tarifvertragsparteien in der Mindestlohnkommission versuchte man den eigenen ordnungspolitischen Bedenken Rechnung zu tragen. Dass ein SPD-Kanzler unter Mitwirkung der FDP die Kommission einfach aushebeln würde, konnte oder wollte man sich 2014/2015 wohl nicht vorstellen. Scholz jedenfalls hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass er bei der Lohnpolitik für die sogenannten kleinen Leute dem Staat mehr vertraut als den Tarifvertragsparteien.

12 Euro sind mehr als in manchem Tarifvertrag vereinbart

12 Euro in der Stunde – das bedeutet nicht nur eine deutliche Anhebung für die Bezieher niedriger Löhne. Bei einer 40 Stunden-Woche steigt bei Mindestlohnbeziehern das Monatseinkommen von derzeit 1702 Euro auf 2083 Euro. Das wird nicht nur Arbeitsgeber in solchen Branchen in Schwierigkeiten bringen, in denen niedrige Löhne eher die Regel als die Ausnahme sind. Gleiches gilt für Wirtschaftszweige, in denen Mindestlöhne per Tarifvertrag vereinbart worden sind. Ein solcher Branchenmindestlohn liegt beispielsweise in der Abfallwirtschaft zurzeit bei 10,45 Euro. Hier hebelt der Staat mit 12 Euro zweifellos die Tarifautonomie aus.

Eine drastische Erhöhung des Mindestlohns von 9,82 auf 12 Euro bringt zudem solche Unternehmen in Schwierigkeiten, in denen in den unteren Tarifgruppen kaum mehr als 12 Euro bezahlt werden. Das trifft beispielweise auf das Elektrohandwerk zu, wo der niedrigste Lohn bei 12,90 Euro liegt. Es wird Arbeitgebern wie auch Betriebsräten nicht leichtfallen, Facharbeitern mit Tariflöhnen von 13 oder 15 Euro zu erklären, warum sie nur unwesentlich besser bezahlt werden als ungelernte Hilfskräfte mit 12 Euro pro Stunde. 12 Euro Mindestlohn – ein Plus von 22 Prozent – müsste zwangsläufig eine deutliche Anhebung aller unteren Lohngruppen nach sich ziehen. Für viele Unternehmen, nach fast zwei Jahren Pandemie ohnehin nicht in bester Verfassung, wird das sicher kein Konjunkturprogramm.

Die CDU/CSU wird das dennoch alles mitmachen – mit Rücksicht auf die Wähler und den eigenen Arbeitnehmerflügel. Hier zeigt sich wieder einmal, dass man nur schwer auf die richtige Spur zurückkommen kann, wenn man vorher aus Bequemlichkeit falsch abgebogen ist. Die 12 Euro werden kommen und sie werden eine deutliche Erhöhung der Arbeitskosten nach sich ziehen. Das ist bedenklich genug.

Viele Arbeitnehmer bleiben dennoch „Aufstocker“

Noch schlimmer ist aber, dass selbst bei 12 Euro keineswegs alle Arbeitnehmer, die trotz Vollzeit noch zusätzliches Geld von der Arbeitsagentur beziehen, sogenannte „Aufstocker“, dann wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen können. Einem Familienvater mit zwei Kindern bleiben bei 12 Euro im Monat 1670 Euro netto. Damit steht er sich in ländlichen Regionen weit weg von den Ballungszentren sicher besser als jetzt derzeit. Aber in Großstädten wie Hamburg, München oder Frankfurt und in deren Umland werden viele Mindestlohnbezieher weiterhin zusätzliches Geld vom Staat brauchen.

Dies ist beim flächendeckenden Mindestlohn – unabhängig von der jeweiligen Höhe – das größte Manko: dass anders als in den regional meist unterschiedlichen Tarifverträgen die jeweiligen Lebenshaltungskosten nicht berücksichtigt werden. Wenn der Staat Arbeitnehmer ohne besondere Qualifikation gegenüber unsozialen Arbeitgebern wirkungsvoll schützen wollte, müsste er nach Regionen gestaffelte Mindestlöhne festsetzen. Das aber hat die GroKo 2014 versäumt. Die ohnehin auf kollektive Lösungen erpichten Sozialdemokraten hat das nicht gestört, im Gegenteil. Die Union hat sich hingegen in eine Falle manövriert, in der sie auch mit dem Wirtschaftspolitiker Friedrich Merz an der Spitze nicht mehr herauskommt. Parteipolitisch wird sich das – trotz der Zustimmung der Union – allein bei den Sozialdemokraten niederschlagen. Sowas kommt eben von sowas.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 18. Januar 2022)


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