28.09.2022

Merkel rechtfertigt ihre Russlandpolitik – mit Berufung auf Kohl

Wie würde Helmut Kohl heute handeln, wenn er noch Bundeskanzler wäre? Dass diese Frage bei der ersten öffentlichen Veranstaltung der neuen „Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung“ in Berlin gestellt werden würde, lag nahe. Interessant war jedoch, wie die als Rednerin geladene Altkanzlerin Angela Merkel sie beantwortete – nämlich indirekt zur Rechtfertigung ihrer eigenen Russlandpolitik seit 2005.

Wenn Politiker, Historiker oder Publizisten vorgeben, genau zu wissen, was ein verstorbener Staatmann in einer aktuellen Situation tun würde, ist meistens viel Wunschdenken dabei. Dabei wird auf den Verstorbenen projiziert, was man selbst für die angemessene oder richtige Politik hält.

Für Merkels These, Kohl würde heute „alles daran setzen, die Souveränität und die Integrität der Ukraine zu schützen und wiederherzustellen“, spricht vieles. Schließlich hat der „Kanzler der Einheit“ wie kaum ein anderer europäische Politiker stets das Recht der Völker auf Selbstbestimmung betont und verteidigt. Das hätte er gegenüber der Ukraine nicht anders gemacht.

Den „Tag danach“ im Blick behalten

Gewagter fiel Merkels zweite Aussage aus. Da Kohl bei seinen Entscheidungen nie „den Tag danach“ aus dem Blick verloren habe, würde er heute „parallel immer auch das im Moment so Undenkbare, schier Unvorstellbare mitdenken – nämlich wie so etwas wie Beziehungen zu und mit Russland wieder entwickelt werden können.“ Mit anderen Worten: Bei allen Maßnahmen gegen den Aggressor Putin würde Kohl stets darauf achten, nach Beendigung des Krieges mit Russland wieder zum „business as usual“ zurückzukehren.

Ob Kohl tatsächlich so gedacht und gehandelt hätte, ist reine Spekulation. Was Merkel in Bezug auf Kohl annimmt, ist indes nichts anderes als die Rechtfertigung ihrer eigenen Russlandpolitik. Schließlich ist Deutschlands Abhängigkeit von russischen Energieimporten in ihrer Regierungszeit dramatisch angestiegen. Deshalb leidet Deutschland mehr als andere europäische Ländern unter den Folgen von Putins Gas-Krieg – mit unabsehbaren Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung wie das politische Klima.

Die Gaspolitik Schröders fortgesetzt

Als Merkel im Herbst 2005 ins Kanzleramt einzog, übernahm sie Nord Stream 1 als Erbe ihrer Vorgängers Gerhard Schröder (SPD) und seiner rot-grünen Regierung. Das Pipelineprojekt Nord Stream 2 wurde in ihrer Regierungszeit gestartet. Da hatte Putin bereits in Georgien einen Krieg vom Zaun gebrochen. Nicht nur Polen und Ungarn warnten Berlin eindringlich vor einer noch engeren energiepolitischen Kooperation mit Moskau; die USA oder Italien betrachteten das Projekt ebenfalls sehr skeptisch.

Die Besetzung der ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk durch von Moskau unterstützte pro-russische Separatisten wie auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland konnten Merkel von ihrem Kurs nicht abbringen. Ihr Denken an „den Tag danach“ ging so weit, dass 2015 der russische Staatskonzern Gazprom mit Unterstützung der Bundesregierung zu einhundert Prozent die Kontrolle über die deutschen Gasspeicher übernehmen konnte. Das war schon eine sehr merkwürdige „Entwicklung“ der Beziehungen zu Moskau.

Kohl kann sich gegen die Vereinnahmung nicht wehren

Es gab für die Altkanzlerin keine Notwendigkeit, sich bei der Kohl-Stiftung zu Putins Überfall auf die Ukraine zu äußern. Sie hätte es dabei belassen können, Kohls Verdienste um die Wiedervereinigung zu würdigen. Ebenso passte zum Anlass, dass sie auf humorvolle Weise berichtete, was sie vom Altkanzler gelernt habe: Die Bedeutung des Persönlichen, den Willen zum Gestalten und das Denken in historischen Zusammenhängen.

Aber Merkel wollte mehr: Sie wollte ihre Russlandpolitik verteidigen – unter Berufung auf Kohl. Wie gesagt: Tote können sich gegen eine Vereinnahmung nicht wehren.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 28. September 2022)


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