25.11.2022

Bürgergeld ist so gerecht und so ungerecht wie Hartz IV

Aus Hartz IV wird das Bürgergeld. Vom 1. Januar an erhalten Alleinstehende 502 Euro im Monat. Dazu übernimmt der Staat die Miete und die Heizkosten. Zusatzleistungen etwa für Schwangere oder Alleinerziehende kommen hinzu, außerdem zusätzliche Vergünstigungen wie der Wegfall der Rundfunkgebühr. Zudem bieten viele Kommunen den Bürgergeldbeziehern Vergünstigungen bei Schwimmbad- oder Theaterbesuchen an.

In den Genuss dieser Leistungen kommen nicht nur Langzeitarbeitslose, bei denen – je nach Alter und Beitragszahlungen - das Arbeitslosengeld I nach 12 bis maximal 24 Monaten ausläuft. Diese Grundsicherung steht ebenso allen Hilfsbedürftigen zwischen 15 und 67 Jahren zu, die kein Arbeitseinkommen und kein nennenswertes Vermögen haben.

In der Praxis kann das zu folgenden Konstellationen führen: Ein Facharbeiter, der 30 Jahre gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, bekommt nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes 502 Euro. Dasselbe gilt für einen 30Jährigen, der nach der Schule seine Berufsausbildung abgebrochen hat und keinen einzigen Tag jemals gearbeitet hat, von gelegentlichen Schwarzarbeit-Jobs einmal abgesehen. Auch hat dieser Bürgergeldbezieher – anders als der 50-Jährige – jemals auch nur einen einzigen Euro an Steuern und Sozialbeiträgen gezahlt.

Bürgergeld löst Hartz-IV-Ungerechtigkeit nicht

Das sieht nach einer geradezu schreienden Ungerechtigkeit aus. Das war so bei Hartz IV und das bleibt auch so beim Bürgergeld. Denn die Grundsicherung soll das Existenzminimum abdecken. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem "Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums", das sich aus der Menschenwürde-Garantie in Artikel 1 des Grundgesetzes und dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 ergebe. Mit anderen Worten: Dauerhaft weniger als das Existenzminimum auszuzahlen, verstieße gegen die Verfassung.

Wollte man vermeiden, dass Menschen mit vielen Arbeitsjahren auf dem Buckel finanziell ebenso gut beziehungsweise schlecht dastehen wie sich vom Arbeitsmarkt fernhaltende Mitbürger, müsste man das Bürgergeld staffeln. Dann würden die Regelsätze umso höher ausfallen, je länger ein Bezieher vorher gearbeitet und Beiträge gezahlt hat. Dann wären wir allerdings wieder zurück in der Zeit vor Hartz IV.

Zur Erinnerung: Vor 2005 konnten Arbeitslose bis zu 32 Monate lang 68 Prozent ihres Nettogehalts als Arbeitslosengeld beziehen. Anschließend standen ihnen – bis zur Rente – 58 Prozent als Arbeitslosenhilfe zu. Diese Regelung war insofern gerecht, als sich in der Höhe der Bezüge die bisherige Arbeitsleistung widerspiegelte. Sie war gleichzeitig ungerecht, weil es manchem ehemals gut bezahlten Facharbeiter in der Dauer-Arbeitslosigkeit finanziell besser ging als beispielsweise schlecht bezahlten Pflegekräften oder Kassierern mit Vollzeitstelle.

2005 waren 4,9 Millionen Arbeitslose in Deutschland registriert

Die damalige Regelung hatte noch einen weiteren Nachteil. Wer bei relativ hohen Unterstützungsleistungen längere Zeit dem Arbeitsmarkt fernblieb, der konnte später nur schwer wieder eingegliedert werden. Auch waren viele Langzeitarbeitslose nicht bereit, Tätigkeiten aufzunehmen, die nicht ihren Wünschen und Vorstellungen entsprachen oder mit denen sie weniger verdient hätten als vor ihrer Arbeitslosigkeit.

Das Ergebnis: 2005 waren 4,9 Millionen Arbeitslose registriert. Deren Zahl sank nach Einführung von Hartz-IV innerhalb von fünf Jahren auf 3,2 Millionen. Das Prinzip „Fördern und Fordern“ hat sich – ungeachtet mancher Konstruktionsfehler der Hartz-Gesetze – bewährt. Anders ausgedrückt: Das „ungerechte“ System sorgte damals für eine deutlich höhere Beschäftigung, was überdies dem Wirtschaftswachstum nutzte.

Wegen der vom Grundgesetz verlangte Gleichbehandlung von Arbeitslosen und Nichtarbeitenden ist und bleibt das Bürgergeld ebenso „ungerecht“ wie Hartz IV. Seit 2005 hat sich jedoch eine wichtige Veränderung bei den potentiellen Beziehern der Grundsicherung ergeben. Der erste „Hartz-IV-Jahrgang“ bestand mehr oder weniger aus Deutschen. Inzwischen sind viele EU-Bürger, vor allem aus ehemaligen Ostblock-Staaten, und Zuwanderer aus Ländern außerhalb der EU hinzugekommen. Diese haben unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf diese Transferleistung.

Transferleistungen machen Deutschland zum Wunderland

Dazu ein paar Zahlen: 2015 bezogen 4,6 Millionen Deutsche und 1,3 Millionen Zuwanderer (jeweils Erwachsene und Kinder) Hartz IV. Inzwischen stehen den nur noch drei Millionen deutschen 2,4 Millionen ausländische Leistungsbezieher gegenüber. Hier schlagen sich die Flüchtlingswelle 2015/16 sowie der jüngste Zustrom aus der Ukraine nieder. Rund drei Viertel der in Deutschland lebenden, erwerbsfähigen Syrer leben ganz oder teilweise von Hartz IV. Auch zählen mehr als 600.000 Ukrainer zu den Kunden der Job-Center.

Mit der Gerechtigkeit ist es eben so eine Sache. In der Zeit vor Hartz IV ging es gerechter zu – um den Preis einer viel höheren Arbeitslosigkeit und einer ungerecht hohen Belastung der Arbeitenden. Die Gleichstellung von anerkannten Flüchtlingen mit deutschen Hilfeempfänger wiederum widerspricht einerseits der Gerechtigkeitsvorstellung vieler Steuerzahler, hat aber nichts mit Hartz IV beziehungsweise dem Bürgergeld zu tun. Das ist das Resultat der deutschen „Wir-schaffen-das“-Politik der weitgehend offenen Grenzen.

Eines aber dürfte zweifelsfrei feststehen: Unsere im europäischen Vergleich hohen Transferleistungen machen Deutschland zum Wunschland vieler, die vor Krieg fliehen oder schlichtweg ein besseres Leben als in der Heimat anstreben. Wegen unseres Klimas kommt jedenfalls niemand hierher.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 25. November 2022)


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