23.02.2023

2000 Euro aus eigener Tasche? Der Kassen-Vorschlag führt in den Nanny-Staat

Kein Zweifel: Die gesetzlichen Krankenkassen sind krank. Im laufenden Jahr wird sich das Defizit auf 17 Milliarden Euro belaufen, der höchste Fehlbetrag aller Zeiten. Die Kassen müssten dringend „operiert“ werden, wenn sie kein Fall für die Intensivstation werden sollen.

Der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen, bekannt für klare, ungeschminkte Aussagen, will deshalb die Beitragszahler zur Kasse bitten. „Wir können uns das System nicht mehr leisten. Patienten müssen künftig mehr aus eigener Tasche dazu bezahlen“, sagte der Professor gegenüber „Bild“. Ohne deutliche Veränderungen würde der Beitragssatz von derzeit knapp 16 Prozent bis 2035 auf bis zu 22 Prozent vom Bruttolohn steigen.

Auch Kassenpatienten würden Arztrechnung bekommen

Der in Freiburg lehrende Ökonom macht dazu Vorschläge, die das bisherige System grundlegend verändern würden. So sollen Kassenpatienten bis zu 2000 Euro im Jahre selbst übernehmen, ehe die Kasse zahlt. Zudem sollen Versicherte Verletzungen bei Risikosportarten wie beispielsweise Skifahren komplett selbst bezahlen. Raucher oder Übergewichtige sollen sich, so der Wirtschaftswissenschaftler, ebenfalls an den Kosten ihrer Behandlungen stärker selbst beteiligen.

Ginge es nach Raffelhüschen, würden Kassenpatienten die Kopie der Arztrechnung bekommen. Den darauf ausgewiesenen Eigenanteil müssten sie dann selbst überweisen. Geringverdiener sollen vom Staat mit Zuschüssen unterstützt werden. Das würde den Bundeshaushalt belasten, nicht die Kassen.

Raffelhüschen unterschätzt bürokratischen Aufwand

Was Raffelhüschen vorschlägt, ist ein Modell für mündige Bürger. Sein Ansatz: Auch Kassenpatienten sollen wissen, welche Kosten bei jedem Arztbesuch entstehen. Das erfahren sie, wenn ihnen die Rechnung ins Haus flattert, weil der Arzt nicht mehr direkt mit der Kasse abrechnet. Zudem sollen die Versicherten selbst mitwirken, die Kosten zu senken, Wer beispielsweise ein Medikament in der Apotheke kauft, ohne vorher einen Arzt aufzusuchen, belastet nicht die Krankenkasse.

Das alles ist in sich stimmig. Nur scheint Raffelhüschen den damit verbundenen bürokratischen Aufwand zu unterschätzen. Das beginnt schon bei der Festlegung, wer aus sozialen Gründen von der Selbstbeteiligung ganz oder teilweise befreit wird und wer nicht.

Berechnung der zumutbaren Selbstbeteiligung kaum umsetzbar

Bei den Empfängern von Bürgergeld alias Hartz IV ist das einfach. Aber zählt bei Geringverdienern nur das Arbeitseinkommen oder werden auch andere Einkünfte berücksichtigt? Ein Versicherter, der im eigenen Häuschen wohnt, ist beispielsweise finanziell leistungsfähiger als ein anderer, der vom gleich hohen Gehalt noch Miete zahlen muss. Man kann sich ausmalen, wie viele Beamte damit beschäftigt sein würden, um für Millionen von Kassenpatienten die Höhe der zumutbaren Selbstbeteiligung zu berechnen.

Die Zusendung der Arztrechnung an den Patienten würde ebenfalls zu Schwierigkeiten führen. Dass jeder Versicherte seinen Eigenanteil schnell überweist, darf bezweifelt werden. Mancher wird auch gar nicht flüssig genug sein. Dann müssten die Arztpraxen viele Mahnungen verschicken, was wiederum deren Kosten erhöht. Da ist die Abrechnung zwischen Arzt und Kasse viel kostengünstiger.

Raffelhüschen-Modell führt zu einem Nanny-Staat

Raffelhüschens Vorschlag, die Kosten einer ungesunden Lebensweise oder die Folgen gefährlicher Sportarten den Versicherten aufzubürden, ist verständlich. Wer auf seine Gesundheit achtet und nicht auf vereisten Pisten oder mit dem Gleitschirm seinen Mut beweisen will, finanziert mit seinem Kassenbeitrag auch die Folgekosten des ungesunden Lebenswandels oder der gefährlichen Hobbys anderer.

Die Verursacher vermeidbarer Krankheiten oder Verletzungen direkt zur Kasse zu bitten, ist folglich keine abwegige Überlegung. Fragt sich nur, welcher Lebensstil von der Krankenkasse – also vom Staat – als erlaubt und welcher als verboten eingestuft wird. Wieviel darf man vom Idealgewicht abweichen, um seine Arztrechnung nicht selbst bezahlen zu müssen? Oder müssen auch Freizeitkicker zahlen, wenn sie sich beim Kampf um den Ball eine Zerrung oder gar einen Bruch zuziehen?

Selbstverantwortung ist gut und wichtig. Aber das Raffelhüschen-Modell führt, konsequent umgesetzt, zu einem Nanny-Staat, der uns vorschreibt, was wir essen und trinken und welche Sportart wir ausüben dürfen. Einen gesunden Lebensstil mit Salat, stillem Wasser und allenfalls leichter Gymnastik als körperliche Betätigung ist nicht das, was sich die meisten unter einem angenehmen Leben vorstellen.

Versicherte sind eher Opfer, nicht Täter

Raffelhüschen setzt mit seinen Vorschlägen bei den Versicherten an. Sie sollen nicht nur mehr zahlen, sondern auch erfahren, wie teuer jeder Arztbesuch ist. Naheliegend wäre jedoch, zunächst das Gesundheitssystem einem „Check-up“ zu unterziehen. Die Deutschen leisten sich – nach den USA – das teuerste Gesundheitssystem der Welt. Sie sind aber nicht gesünder als andere.

Dass unser Gesundheitssystem so teuer ist und immer teurer wird, liegt nicht in erster Linie an den Versicherten. Daran hat die Politik bei ihrem kaum mehr durchschaubaren Zusammenwirken mit den Interessenvertretungen der Ärzte, den Krankenhäusern, der Pharmazeutischen Industrie und den Krankenkassen den entscheidenden Anteil. Die Versicherten sind da eher Opfer, nicht Täter.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 23. Februar 2023)


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