17.05.2023

Von de Leyen lädt zu Wohlfühl-Träumereien ein

Wenn von Wirtschaftswachstum die Rede ist, geht es um das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es misst den Wert aller innerhalb eines Jahres in einem Land hergestellten Waren und erbrachten Dienstleistungen, abzüglich der aus dem Ausland bezogenen Vorprodukte und Leistungen. Steigt das BIP, bedeutet das in der Regel mehr Beschäftigung und höhere Steuereinnahmen. Das BIP ist folglich der wichtigste Maßstab für Wohlstand.

Die EU-Kommission will an diesem klassischen Indikator nicht länger festhalten. Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni kündigte jetzt an, das BIP um „grüne“ und „soziale“ Faktoren zu ergänzen. Er berief sich dabei auf den amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, der dies schon seit längerem fordert.

Ein neues, „soziales“ BIP?

Gentiloni will deshalb zu einer umfassenderen Analyse kommen, die am „wirtschaftlichen Wohlbefinden“ orientiert sei. Er wurde prompt von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterstützt. Die will ebenfalls „öffentliche Güter“ wie Gesundheitsversorgung, Erziehung, Arbeiterrechte, persönliche Sicherheit, Bürgerengagement und „gute Staatsführung“ in den Wohlstandsindex einbezogen wissen.

Die Kritik am BIP als zentralem Wohlstandsmaß ist nichts Neues. Schon US-Senator Robert Kennedy (+ 1968) kritisierte, das BIP messe alles, „außer dem, was das Leben lebenswert macht.“ Auch lernen Volkswirtschaftsstudenten bereits im ersten Semester, dass dieser Index Schwächen hat. Nur ein Beispiel: Mehr schwere Autounfälle führen zu höheren Einnahmen der Reparaturwerkstätten und der Krankenhäuser, steigern also das BIP. Das dabei verursachte menschliche Leid bleibt unberücksichtigt.

Die Idee ist in Frankreich bereits gescheitert

Nicht ins BIP gehen auch die Leistungen ein, die beispielsweise in Haushalten unentgeltlich erbracht werden. Höhe und Wachstumsrate des BIP sagen zudem nichts aus über Staatsverschuldung, Vermögensverteilung, die Qualität des Gesundheitswesens, das Klima oder die soziale Absicherung. Kein Zweifel: Das Bruttoinlandsprodukt misst Wichtiges, aber keineswegs alles, was auch wichtig ist.

Die Pläne der EU-Kommission haben nur einen Nachteil: Einen Wohlstandsindex, der Wirtschaftskraft und Lebensqualität, also harte wie weiche Faktoren verbindet, gibt es nicht. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hatte schon 2009 gefordert, das BIP um die Qualität von Umweltschutz, Sozialleistungen und öffentliche Dienstleistungen zu ergänzen. Gleich fünf Nobelpreisträger, darunter Stiglitz, sollten diesen neuen Maßstab erarbeiten. Nur: Es ist ihnen nicht gelungen.

Jedes Land soll wichtige Faktoren in einem „Dashboard“ festhalten

Stiglitz selbst will nach wie vor das BIP „entthronen“. Zugleich räumt er ein, es sei bisher nicht gelungen, in einem einzigen Maßstab das Wohlergehen der Gesellschaft wie die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zu vereinen. Er schlägt deshalb vor, jedes Land solle neben dem BIP andere wichtige Faktoren jährlich in einem „Dashboard“ zusammenfassen.

Nun ist es keineswegs so, dass alle Politiker und alle Manager nur auf das BIP und seine Entwicklung fixiert seien. Vielleicht ist von der Leyen entgangen, dass die EU zahllose Statistiken über die unterschiedlichsten Entwicklungen erstellt und veröffentlicht und keineswegs alles auf das BIP abstellt.

„Wachstum ist nicht alles, aber ohne geht vieles nicht“

Der im Kern ziemlich vage Vorstoß der EU-Kommission, künftig das „wirtschaftliche Wohlbefinden“ zu messen, ist Wasser auf die Mühlen derer, die sich grundsätzlich eine Wirtschaft ohne Wachstum wünschen. Doch bei allen Unzulänglichkeiten des BIP als Maßstab: Wenn die Wirtschaft nicht wächst oder gar schrumpft, kommt die ambitionierteste Politik zur Rettung des Klimas, zu einer gleichmäßigeren Verteilung der Vermögen oder zur Steigerung der Lebenserwartung an ihre Grenzen. Denn der Staat braucht für wachsende Aufgaben steigende Steuereinnahmen, ebenso für die Bedienung von Schulden.

So wichtig und richtig es ist, die Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums nicht zu verabsolutieren, so falsch wäre es, das „Wohlbefinden“ der Menschen über alles zu stellen. Nicht nur, weil der Maßstab für Zufriedenheit oder Glück individuell höchst unterschiedlich ist. Vor allem aber gilt gerade für die Weiterentwicklung eines Landes: Wachstum ist nicht alles. Aber ohne Wachstum geht vieles nicht. Das sollte man auch in Brüssel wissen.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 17. Mai 2023)


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