01.06.2023

Rente mit 63: Ein unfaires Relikt

Arbeitsminister Hubertus Heil gibt sich empört. Der Vorschlag des CDU-Politikers Jens Spahn, die „Rente mit 63“ abzuschaffen, nennt er „Rentenkürzung“. Das ist von der Wahrheit so weit entfernt wie der VfL Bochum von der Deutschen Meisterschaft. Falls vom nächsten Jahr an niemand mehr mit 45 Beitragsjahren vorzeitig und ohne Abschläge in den Ruhestand gehen könnte, bekäme niemand weniger Geld. Es würde nur eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern nicht länger privilegiert.

Die Gewerkschaften waren schon seit langem der Meinung gewesen, wer 45 Jahre lang gearbeitet und Beiträge bezahlt habe, soll schon mit 63 Jahren Schluss machen dürfen - ohne auch nur einen Euro an Rente einzubüßen. Die SPD hat diese Forderung im Wahlkampf 2013 übernommen. Damals war jedoch schon zweierlei absehbar: dass das Rentensystem finanziell auf immer wackeligeren Füßen steht und der Mangel an Fachkräften zunehmen wird.

Dies alles hat die SPD nicht weiter interessiert. Ihr ging es nämlich weniger um die Rentner als um die Gewerkschaften. Die „Rente mit 63“ war ein Versöhnungsgeschenk der SPD an die Arbeitnehmerorganisationen. Es sollte den Riss kitten, der 2005 wegen der „Agenda 2010“ zwischen SPD und DGB-Gewerkschaften aufgebrochen war. Denn die SPD wollte die Gewerkschaften wieder als das haben, was sie stets waren - eine in Wahlkampfzeiten hilfreiche Vorfeldorganisation der Sozialdemokratie. Also machte die SPD nach der Bundestagswahl 2013 die „Rente mit 63“ zur Vorbedingung für eine Große Koalition. Und die CDU/CSU machte wider besseres Wissen mit. Man wollte halt das eigene sozialpolitische Image aufpolieren.

Der Begriff „Rente mit 63“ ist irreführend

Seit 2014 haben mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer von dieser Möglichkeit des vorzeitigen Rentenbezugs ohne Kürzung Gebrauch gemacht. Wobei der Begriff „Rente mit 63“ irreführend ist. Mit 63 Jahren in den Ruhestand treten konnten nur diejenigen, die vor 1953 geboren wurden. Bei allen anderen verschob sich der vorgezogene Rentenbeginn im selben Umfang, wie das Renteneintrittsalter mit dem Ziel „Rente mit 67“ anstieg. Wer aus dem Jahrgang 1958 von der „Rente mit 63“ Gebrauch macht, hört in diesem Jahr mit 64 Jahren zu arbeiten auf - statt mit 66.

Der vorzeitige Ruhestand von mehr als zwei Millionen Menschen kostet nicht nur Milliarden. Er verschärft zudem den ohnehin beängstigenden Mangel an Fachkräften. Was das Ganze noch schlimmer macht: „Rente mit 63“ ist eine einseitige Bevorzugung von männlichen Industriearbeitern, die mit 15 oder 16 Jahren mit dem Arbeiten begonnen haben und schon während der Lehre, wie das damals hieß, Rentenbeiträge entrichteten. Dementsprechend liegen die Renten dieser „Frührentner“ mit mehr rund 1650 Euro im Westen und 1350 Euro im Osten weit über dem Durchschnitt.

Diese „Edelrentner“ beziehen also aufgrund ihrer Lebensleistung und dank der üppigeren Rentenanhebungen in den einst fetten Jahren Ruhestandsbezüge, von denen ihre Kinder und Enkel nur träumen können; sie müssen diese finanzieren. Hinzu kommt, dass viele Angehörige dieser Rentner-Generation dank der „guten alten Zeiten“ noch in den Genuss von Betriebsrenten kommen. Dies ist ihnen zu gönnen, zeigt aber zugleich, dass gerade diese Gruppe keiner zusätzlichen Vorteile bedarf.

Bemerkenswert inkonsequent

Was den durch diese Form der vorzeitigen Verrentung verschärften Fachkräftemangel betrifft, verhält sich die SPD bemerkenswert inkonsequent. Bundeskanzler Olaf Scholz hat vor nicht allzu langer Zeit gefordert, den Anteil derer zu steigern, „die wirklich bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können.“ Nun gehen aber nicht die früher in den Ruhestand, die nicht mehr arbeiten können, sondern vor allem diejenigen, die besonders gut versorgt sind.

Zweifellos gibt es viele Arbeitnehmer, die so lange so schwer gearbeitet haben, dass sie eigentlich vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden sollten. Ihnen hilft eine Rentenpolitik mit der Gießkanne jedoch nicht; hier wäre eine Verbesserung der Erwerbsminderungsrenten notwendig. Der Elektroniker beispielsweise, der 45 Jahre Beiträge gezahlt hat, dürfte in der Regel gesundheitlich besser dastehen als ein Bauarbeiter. Doch der Staat behandelt beide gleich.

Viele Frauen kommen nicht auf 45 Beitragsjahre

Die Verteidiger der „Rente mit 63“ übersehen zudem, dass diese Regelung vor allem Frauen benachteiligt. Zum einen kommen sehr viele Frauen nicht auf 45 Beitragsjahre, weil sie aus familiären Gründen zeitweilig aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Zum anderen setzen Berufe wie die des Erziehers oder Pflegers eine mehrjährige Fachhochschulausbildung voraus. In dieser Zeit werden, anders als bei der Ausbildung von Industriearbeitern oder Handwerkern, noch keine Rentenbeiträge fällig. Da kann „frau“ nur schwer auf 45 Beitragsjahre kommen, was aber offenbar niemanden stört. Die Ampel versucht auf zahllosen Feldern eine „feministische“ Politik zu verfolgen, hier aber nicht.

Die „Rente mit 63“ ist ein Relikt aus einer Zeit, als die Kassen noch nicht ganz so leer waren wie heute und über den Fachkräftemangel gesprochen wurde, er aber noch nicht zu spüren war. Knapp zehn Jahren nach den entsprechenden rentenpolitischen Beschlüssen der damaligen GroKo sieht die Welt dagegen anders aus. Die arbeitsmarktpolitischen Folgen wie auch die negativen Auswirkungen der „Rente mit 63“ auf die Rentenkasse lassen sich nicht länger leugnen. Die „Rente mit 63“ war und ist eine parteipolitisch motivierte, Frauen benachteiligende „Reform“, die einer überschaubaren Zahl von privilegierten Ruheständlern nutzt und der Mehrheit schadet. Je früher sich die Regierung das eingesteht, umso besser - für die Rentenkasse wie für den Arbeitsmarkt.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 1. Juni 2023)


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