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Laudatio auf Carla del Ponte aus Anlaß der Verleihung des Westfälischen Friedenspreises am 8. Juni 2002 in Münster

„Eine mutige Frau, die uns allen Mut macht“

Von Hugo Müller-Vogg



13 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs, 57 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs und 354 Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges leben wir Deutsche in einer Welt voller Chancen und Möglichkeiten, leben wir in einem Land, das nur „von Freunden umzingelt“ (Klaus Kinkel) ist. 

So besehen leben wir eigentlich in der besten aller Welten. Doch der Schein trügt. 

Irgendwo auf dieser schönen neuen Welt bereitet sich auch in dieser Stunde ein Terrorist auf sein mörderisches Handwerk vor, irgendwo wird auch zu dieser Stunde gekämpft, geschossen und gebombt, werden erklärte und nicht erklärte Kriege geführt, werden Menschen unterdrückt, verfolgt, misshandelt und vertrieben.

Die friedliche Öffnung des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 war eine historische Zäsur. Man hätte annehmen können, die Völker Europas würden in erster Linie danach trachten, die neuen geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Freiheiten zu nutzen und zu genießen.

Aber die Wirklichkeit ist ernüchternd und traurig, ja sie ist schockierend: An vielen Orten gibt es auch zu dieser Stunde Hass und Angst, zumeist gespeist aus falsch verstandenem Nationalstolz, aus fehlender Toleranz, aus krudem völkischem Denken. 

Viele Menschen und manche Völker nutzen nicht die neuen Freiheiten, sie missbrauchen sie. Sie verwenden und verschwenden viel Energie, Geld und Blut darauf, andere wegen ihrer Abstammung oder Religion zu benachteiligen, zu unterdrücken, zu vertreiben, zu töten.

Nein, es gibt sie nicht, die neue, schöne, heile Welt. Gerade der staatlich organisierte Völkermord im ehemaligen Jugoslawien hat uns vor Augen geführt, dass die steinzeitliche Axt des rassistischen oder religiösen Vorurteils selbst in unserer globalisierten und digitalisierten Welt noch immer ein Gebrauchsgegenstand ist.

Es wäre aber falsch, zu resignieren und aufzuhören, uns um eine friedliche, wenigstens friedlichere Welt zu bemühen. Wobei wir uns im Klaren sein müssen: Frieden ist eben nicht nur „die Abwesenheit von Krieg“. Nein, Frieden bedeutet mehr als das Schweigen der Waffen. 

Lech Walesa hat 1983 bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises gesagt, die Menschen suchten nach der Verbindung von zwei Grundwerten „Frieden und Gerechtigkeit“.
Frieden und Gerechtigkeit – sie sind, so Walesa, „wie Salz und Brot für die Menschheit. Jede Nation und jede Gemeinschaft hat das unveräußerliche Recht auf diese Werte. Kein Konflikt kann gelöst werden, sofern nicht alles getan wird, diesen Weg zu gehen.“

„Frieden u n d Gerechtigkeit“. Ja, Frieden hat sehr viel mit Gerechtigkeit zu tun. In Gesellschaften, in denen es gerecht zugeht, ist die Wahrscheinlichkeit von Konflikten geringer. Auch nach einem Krieg, vor allem nach einem Bürgerkrieg, bringt das Schweigen der Waffen nicht automatisch den Frieden, schon gar nicht den inneren Frieden. Dazu bedarf es auch der Gerechtigkeit – gegenüber den Opfern wie gegenüber den Tätern.
Verehrte Festversammlung!

Wir ehren heute eine Frau, die ihr Leben in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt hat – und damit auch in den Dienst des Friedens: Frau Carla Del Ponte. 

Der Titel „Chefanklägerin des Internationalen Kriegsverbrechertribunals für das frühere Jugoslawien“ mag martialisch klingen. Aber die Arbeit, die in Den Haag getan wird, besteht nicht nur aus der Feststellung von Schuld und Verantwortung, nicht nur aus dem Verhängen von Urteilen und Strafen. Ihr Erfolg bemisst sich nicht nur nach der Zahl der dem Gericht zugeführten Angeklagten, nicht nur nach der Zahl der Verurteilungen. 

In diesem nicht sonderlich imposant wirkenden Gerichtsgebäude in der niederländischen Hauptstadt geht es um viel mehr – nämlich um den Versuch, Gerechtigkeit zu globalisieren. Schließlich ist Slobodan Milosevic, der ehemalige Präsidenten der früheren Republik Jugoslawien, das erste ehemalige Staatsoberhaupt, das vor einem internationalen Gericht steht. 

Diese Tatsache allein signalisiert jedem Präsidenten und jedem General dieser Welt, dass auch ihm eines Tages ein solches Verfahren drohen könnte. 

Darauf beruht auch das Kalkül des Verfahrens: 

- dass es fort wirkt in die Zukunft,
- dass es potentielle Völkermörder, potentielle Kriegsverbrecher und potentielle Verbrecher gegen die Menschlichkeit abschreckt,
- dass es ihnen Angst macht. 

Bisher galt: Tyrannen haben außerhalb des eigenen Landes nichts zu befürchten. Dieses Tabu hat das Tribunal bereits durchbrochen. Seit Milosevic in Den Haag vor Gericht steht, gilt dies nicht mehr.

Auch deshalb ist das UN-Tribunal in Den Haag ist eine einmalige Institution mit einer einmaligen Chance: Es ist ein Triumph der Menschlichkeit. Aber auch ein Triumph der praktischen Vernunft.
Denn vieles in Den Haag führt uns vor Augen, dass die Institutionen des Völkerrechts ohne Unterstützung möglichst vieler Staaten und ohne die Garantien der einzig verbliebenen Supermacht auf eher unsicherem Boden stehen. 

Die Arbeit dieses Tribunals wie sein Erfolg werden mit darüber entscheiden, welche Bedeutung der künftige Ständige Internationale Strafgerichtshof haben wird. Und ob wichtige Staaten es sich leisten können, dabei im Abseits zu stehen.

In diesem Tribunal nimmt unsere Preisträgerin eine Schlüsselstellung ein. Frau Del Ponte ist eine leidenschaftliche Juristin. Aber Gerechtigkeit ist für sie mehr als die buchstabengetreue Befolgung des Gesetzes, mehr als die ordnungsgemäße Einhaltung des Rechtswegs. Gerechtigkeit, das heißt sie für, dass die Täter ihrer gerechten Strafe nicht entgehen und dass das Urteil auch den Opfern gerecht wird.

Deshalb war die junge Carla Del Ponte nicht lange als Strafverteidigerin tätig. Wenn sie sah, dass ihr Mandant schuldig war, empfahl sie ihm ein Geständnis. Diese Haltung ist für eine wirkungsvolle Verteidigung, um es zurückhaltend zu formulieren, eher kontraproduktiv. Folglich wechselte die junge Anwältin die Seiten.

Man kann der Gerechtigkeit auf vielfältige Weise dienen. Frau Del Ponte tat dies den größten Teil ihrer Karriere auf Seiten des Staates in ihrer schweizerischen Heimat: als Untersuchungsrichterin, als Staatsanwältin, seit 1994 als Bundesanwältin, also als höchste Strafverfolgerin ihres Landes. Und seit gut zweieinhalb Jahren als Chefanklägerin in Den Haag.

Frau Del Ponte hat über ihre Arbeit einmal gesagt: „Ich habe nie irgendjemandem oder irgendeiner Sache gedient mit Ausnahme dem Gesetz!“ Und ihr Dienst am Gesetz war stets geprägt durch Konsequenz und Härtnäckigkeit, auch durch das Fehlen falscher Rücksichtsnahmen.

Ihr Dienst an dem Gesetz bestand in der Schweiz u.a. im Kampf gegen die organisierte Kriminalität, gegen die Geldwäsche, gegen Drogen- und Waffenhandel, gegen die Mafia. Die Staatsanwältin Del Ponte machte es auch ehemaligen Politikern schwer, illegale Gelder in der Schweiz anzulegen. Und es hat nicht allen in New York oder Washington gefallen, dass die Chefanklägerin auch Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit der Bombardierung des ehemaligen Jugoslawiens eingeleitet hatte. 

Wer so handelt, macht sich nicht nur Freunde; er macht sich erbitterte Feinde. Bei ihrer Zusammenarbeit mit dem italienischen Mafia-Jäger Falcone entging die Staatsanwältin Del Ponte nur knapp einem Attentat. Als Chefanklägerin in Den Haag ist Frau Del Ponte nicht weniger gefährdet. Aber sie bringt diesen Mut auf, mit der Gefahr zu leben. Denn sonst müsste sie den Beruf wechseln, also aufgeben. Aber aufgeben beim Kampf um Gerechtigkeit – das käme Carla Del Ponte wohl wie Verrat vor.

Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg; zum Frieden gehört auch Gerechtigkeit.

- Der Chefanklägerin und ihren Mitarbeitern in Den Haag geht es um die Verantwortlichen der Balkan-Kriege und der dabei begangenen Verbrechen. 
- Es geht ihr besonders um die politisch Verantwortlichen, um die Schreibtischtäter.
- Es geht ihr um die individuelle Verantwortung – unabhängig vom Rang und der Stellung des Beschuldigten. 

Die Chefanklägerin und ihr Stab sind zugleich Anwälte der Opfer. Sie sind Stimme der Frauen und Männer, die vertrieben und getötet wurden, die in Lager gepfercht, gedemütigt und auf schreckliche Weise gequält wurden. Sie sind Stimme derer, denen die Angeklagten auch noch das Letzte zu nehmen versuchten, was sie hatten – ihre Würde.

Ein Ankläger muss mit dem in den Akten verborgenen Grauen, mit dem auf Videos festgehaltenen Bildern kühl und professionell umgehen, schon aus Gründen des Selbstschutzes. 

Das Prozedere des Tribunals bringt es freilich mit sich, dass jeder Ankläger auch mit den Zeuginnen und Zeugen direkt zu tun hat, sie auf den Prozess vorbereitet, in Gesichter schaut, in denen unsäglicher Schmerz und unfassbares Leid eingegraben sind, in leer geweinte Augen blickt, die nicht mehr strahlen können. 

In Den Haag treten Frauen als Zeugen auf, deren Männer, Söhne und Brüder getötet wurden, die selbst misshandelt und vergewaltigt wurden, die heute zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel haben, die eine kärgliche Existenz führen – ohne Perspektive, ohne große Hoffnung. Vor allem diese Frauen erwarten von der Anklägerin, dass sie ihnen zu Gerechtigkeit verhilft. 

Wenn diese Frauen und ihre unzähligen Leidensgenossinnen nicht erleben dürfen, dass ihre Peiniger bestraft werden, dass diesen Gerechtigkeit widerfährt, dann gibt es wohl überhaupt keine Chance, dass sie – die unschuldigen, geschundenen Opfer des Krieges - jemals wieder Frieden finden.

Verehrte Festversammlung!

Die „Wirtschaftliche Gesellschaft für Westfalen und Lippe“ will mit dem Westfälischen Friedenspreis an das Friedenswerk von 1648 anknüpfen:

- Sie tut das, in dem sie mit der Chefanklägerin von Den Haag eine zentrale Persönlichkeit dieses wegweisenden Kriegverbrecher-Tribunals auszeichnet. 
- Sie tut es auch, in dem sie eine schweizerische Juristin ehrt, die ganz pragmatisch demonstriert, wie ihr Land sich dem vereinten Europa annähert, ohne die eigenen Traditionen zu verleugnen.
- Nicht zuletzt drückt die Auszeichnung von Frau Carla Del Ponte eine Hoffnung aus, die Hoffnung auf eine bessere Welt, in der verbrecherische Regime den Frieden fürchten müssen, jedenfalls dann, wenn er auch zu Gerechtigkeit führt. 


Sehr verehrte Frau Del Ponte,

die „Wirtschaftliche Gesellschaft für Westfalen und Lippe“ ehrt mit Ihnen 

- eine hartnäckige Dienerin des Gesetzes, 
- eine couragierte Befürworterin internationaler Sanktionen gegen verbrecherische Politiker und Militärs, 
- eine überzeugende Stimme der Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen, 
- eine Vorkämpferin für Gerechtigkeit im Frieden
- eine mutige Frau, die uns allen Mut macht. 

Gerade die Opfer auf dem Balkon setzen ihre Hoffnung in Sie. 
Diese Hoffnungen, Frau Del Ponte, diese hohen Erwartungen, können selbst für eine so starke Vertreterin des Rechts wie Sie eine gewaltige Last sein. 

Möge der „Westfälische Friedenspreis 2002“ Sie darin bestärken, diese Last weiterhin zu schultern und den eingeschlagenen Weg unbeirrt fortzusetzen. 

Unsere herzlichen Glückwünsche begleiten Sie.



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