12.07.2024

Joe Biden, Gott der Allmächtige und irdische Parteitagsregeln

Stellen wir uns vor, die Spitzengremien einer deutschen Partei haben sich auf einen Kanzlerkandidaten geeinigt. Der soll dann offiziell auf einem Parteitag gekürt werden. Doch plötzlich tauchen Dokumente auf, die den Nominierten schwer belasten und seine Wahlchancen gegen Null tendieren lassen. Dann würden die Parteigranden sich schnell auf einen anderen Spitzenkandidaten verständigen - und der Parteitag würde freudig zustimmen, Standing Ovation inklusive.

Die Demokraten in den Vereinigten Staaten wären froh und glücklich, wenn es bei ihnen so unkompliziert zugehen könnte wie in diesem Fall bei uns. Dann hätte das „Democratic National Committee“, das höchste Gremium zwischen Parteitagen, Joe Biden längst klargemacht, dass sein Traum von einem zweiten Wahlsieg über Donald Trump ausgeträumt ist. Dem im Amt sehr Gealterten würde die Partei dann sagen, „Danke Joe, das wars“.

Das geht definitiv nicht so einfach. Denn die Parteitagsdelegierten der Demokraten sind ebenso wie die der Republikaner keineswegs frei in ihrer Entscheidung. 3.894 der 4.000 Wahlmänner sind nämlich nach dem Parteistatut verpflichtet, ihre Stimme für Biden abzugeben. Sie sind nämlich in den „Primaries“, den Vorwahlen, in allen Bundesstaaten auf Biden-Listen gewählt worden. Sie haben anders als Parteitagsdelegierte deutscher Parteien kein freies Mandat, sondern ein imperatives. Wer auf dem Biden-Ticket entsandt wurde, hat für Biden zu stimmen - Punkt.

Falls Biden stur bleibt, wird der Parteitag ihn nominieren müssen

Die Regeln der Demokraten sind da eindeutig. Die Delegierten sollen guten Gewissens die Einstellungen ihrer Wähler widerspiegeln („shall in all good conscience reflect the sentiments of these who elected them“). Klar ist, die Wähler der 3.894 Biden-Delegierten wollten, dass der amtierende Präsident abermals antritt. Einen anderen ernsthaften innerparteilichen Bewerber gab es ohnehin nicht. Zwar wurden schon während der Vorwahlen Bedenken wegen Bidens Alter geäußert. Aber so schlimme Ausfallerscheinungen wie bei dem Duell mit Trump hatte es damals noch nicht gegeben oder waren nicht bekannt geworden.

Inzwischen mehren sich die Stimmen innerhalb der Demokraten, dass mit dem 81-jährigem die Wahl nicht mehr zu gewinnen sei. Hatten Biden und Trump vor dem TV-Duell in den Umfragen noch Kopf-an-Kopf gelegen, so führt Trump inzwischen mit fünf bis sechs Prozentpunkten. Schlimmer noch: In den wahlentscheidenden „Swing States“, in denen die Wähler keine klare parteipolitische Präferenz haben, liegt Trump inzwischen deutlich vorn. Wenn jetzt gewählt würde, stünde Trumps Rückkehr ins Weiße Haus fest.

Viele Demokraten hoffen, Biden würde endlich einsehen, dass er - ungeachtet seiner insgesamt erfolgreichen Präsidentschaft - der Aufgabe nicht mehr gewachsen ist. Dann wären seine Wahlmänner in ihrer Entscheidung völlig frei. Falls Biden jedoch - mit heftiger Unterstützung seiner Frau Jill - stur bleibt, wird der Parteitag ihn nominieren müssen. Es sei denn, die meisten Delegierten kämen „guten Gewissens“ zu dem Ergebnis, eine Stimme für Biden entspräche nicht mehr dem „sentiment“ ihrer Wähler.

Bis in die 1960er-Jahre gab es für die Nominierung von Präsidentschaftskandidaten keine eindeutigen Regeln

Wer wollte dies feststellen? Eine Umfrage unter denen, die in den Vorwahlen zwischen Januar und Juni für Biden gestimmt haben, ist gar nicht möglich. Ganz abgesehen davon gibt es keinen anderen demokratischen Politiker, der so bekannt und geschätzt ist, dass er es aus dem Stand mit Trump aufnehmen könnte, sich als Biden-Ersatz also geradezu aufdrängt. Zudem spielt der Faktor Zeit eine wichtige Rolle: Der Parteitag der Demokraten in Chicago beginnt am 19. August, in gerade einmal 38 Tagen (Stand 12.7.).

Tatsächlich ist die Zeitspanne, in der sich die Partei auf einen neuen Mann oder eine Frau einigen müsste, noch kürzer. Da der Staat Ohio verlangt, dass Präsidentschaftskandidaten bis zum 7. August nominiert sein müssen, werden die Demokraten die Delegierten bereits zwischen dem 21. Juli und 6. August virtuell abstimmen lassen. Würde Biden später freiwillig zurückziehen, wäre der wichtige „Swing State“ Ohio für die Demokraten wohl verloren.

Zu früheren Zeiten war das alles noch einfacher. Bis in die 1960er-Jahre hinein gab es für die Nominierung von Präsidentschaftskandidaten keine eindeutigen Regeln. So nominierten die Demokraten auf ihrem von massiven Protesten gegen den Vietnamkrieg begleiteten Parteitag 1968 in Chicago den damaligen Vizepräsidenten Hubert Humphrey. Der hatte anders als seine Gegenkandidaten an keiner einzigen Vorwahl teilgenommen. Er verlor dann die Präsidentschaftswahl gegen den Republikaner Richard Nixon.

Bei den Demokraten steht der „Nominee“ stets vor dem Parteitag fest

Auch kam es öfters vor, dass aus manchen Staaten gleich zwei Delegationen anrückten, die sich gegenseitig vorwarfen, widerrechtlich am Parteitag teilnehmen zu wollen. Das führte zur Einführung der Vorwahlen, wobei diese wiederum von Bundesstaat zu Bundesstaat nach teilweise unterschiedlichen Regeln ablaufen. Auch die Republikaner beendeten im Laufe der Zeit die Praxis, dass die Parteiführungen das Gros der Delegierten selbst auswählen konnten.

Bei den Demokraten steht der „Nominee“ seitdem stets vor dem Parteitag fest. Die letzte echte Kampfabstimmung gab es 1976 bei den Republikanern, als Ronald Reagan bei seinem ersten Anlauf dem amtierenden Präsidenten Gerald Ford unterlag. Auch in dieser Partei ist die „Convention“ längst eine reine Akklamitionsveranstaltung und Krönungsmesse.

Das wäre im August ebenfalls der Fall gewesen, wenn Biden nicht so offensichtliche Schwächen gezeigt hätte. Falls er doch noch aufgibt, wären seine Delegierten frei in ihrer Entscheidung. Er könnte ihnen einen anderen Bewerber empfehlen; sie wären jedoch nicht an seinen Vorschlag gebunden.

Ob ein freiwilliger Rückzug des Präsidenten den Demokraten wirklich noch helfen würde, ist äußerst fraglich. In so kurzer Zeit zu entscheiden, wer aus der Handvoll potentieller Kandidaten gegen Trump angetreten soll, ginge nicht ohne heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen zwischen dem linken und dem eher konservativen Flügel. Das könnte zu einem konfliktreichen Parteitag führen, den kaum jemand ohne Blessuren verlassen würde, den Nominierten eingeschlossen.

Es spricht also viel dafür, dass Biden die Parteitagsregeln zu seinen Gunsten nutzt. Nur „Gott der Allmächtige“ könnte ihn bremsen, ließ er seine Kritiker wissen. Doch momentan helfen ihm die irdischen Parteitagsregeln mehr als göttlicher Beistand. Innerparteiliche Demokratie nach amerikanischem Muster führt eben nicht zwangsläufig zu guten Ergebnissen für das Land.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 12. Juli 2024)


» Artikel kommentieren

Kommentare



Drucken
Müller-Vogg am Mikrofon

Presse

01. November 2023 | Hauptstadt – Das Briefing

Ampel-Krise

» mehr

Buchtipp

konservativ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wirtschaft

konservativ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wirtschaft

» mehr

Biografie

Dr. Hugo Müller Vogg

Hugo-Müller-Vogg

» mehr